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Johanna L.
zu Über der strömenden Zeit :


Wer einmal Gedichte von Angelica Seithe gelesen hat, wird sich an Bilder erinnern. Auch in ihrem neuen Band "Über der strömenden Zeit" überraschen sie den Leser und leuchten unmittelbar ein, Bilder wie diese: "Meine Gefühle für dich / zugeweht vom Sand" oder "Ein Flügelschlag wie schwere Seide" oder "Ein grüner Löwe liegt der Mai / vor meinem Fenster"... Und wenn die "Frühlingshexe" beschworden wird, eine Person kindlich anmutender und zugleich erotisch gefärbter Phantasie, prägt sich dieses Bild ein: "Die Schenkelschere geöffnet / produziert sie Knospen, die / aufspringen, kleine Geschosse / eines ums andre". Originell! Das vergisst man nicht mehr.
Ein anderes Gedicht ("Allein") spielt aufs Märchen an, das so verfremdet wird: "Rapunzel / kämmt ihr / kurzes Haar". Die Geschichte, die darin steckt, kann der Leser sich ausmalen und weitererzählen; Angelica Seithe deutet nur an. Sie ist eine Meisterin des Aussparens. Kein Wort zu viel! Manches erinnert an östliche Lyrik, wie dieser lakonische Dreizeiler, dessen Silbenzahl einem Haiku entspräche, würde die Pause nach dem Seufzer mitzählen: "Auf dem Teppich ein / Lager aus weißen Laken / Ach - nur der Mond".
Ein einziges Wort, ein Zufallsfund vielleicht, kann den poetischen Prozess auslösen. "Salzrosen" ist solch ein Wort, das der Autorin wohl merk-würdig erschienen ist, weil es so Gegensätzliches in sich vereint. In ihrem Gedicht wird ein Liebesbrief zum Schiff, das auf die Seereise geschickt wird und kentert: "Nun liegt er gestrandet / auf einer Klippe / Erbleicht / Setzt Salzrosen an".
Übrigens geht es bei Angelica Seithe nicht nur ernst und getragen zu. Sie schreibt auch mit knappem Witz oder Galgenhumor zwischen den Zeilen, zum Beispiel so: "Lesen: / Das Kleingedruckte / unter der Liebeserklärung".

Angelica Seithes poetische Logik lässt sich gut nachvollziehen. Deshalb sei dieser Band auch jenen empfohlen, die meinen, mit Lyrik von heute nichts anfangen zu können, weil sie zu schwer verständlich sei. Diese Gedichte sind eine Mischung aus Phantasie und sehr genauer Beobachtung. Sie verdanken ihre Schönheit großer Konzentration auf jedes einzelne Wort, die Sprachmelodie der Verse, ihren Rhythmus. Eigentlich muss man sie laut lesen, um ihnen gerecht zu werden. Ihre Themen? Immer noch und immer wieder: Liebe und Natur. Und wie beides der Zeit unterworfen ist.

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