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Dr. Klaus P. Andrießen (Redakteur der WNZ und mittelhessen.de) zu Im Schatten der Äpfel. Ausgewählte Gedichte 2016 :



"Sätze beweglichen Silbers"
02.09.2016
Von Klaus P. Andriessen

"Sätze beweglichen Silbers"
LYRIK Autorin Seithe im Gespräch
Wettenberg Ein Gedicht schreiben - wie geht das? Jemand, der es wissen muss, ist Angelica Seithe. Die Autorin wohnt in Wettenberg (Kreis Gießen). Sie beschäftigt sich seit ihrer Schulzeit mit Lyrik,  hat mittlerweile sieben Gedichtbände veröffentlicht und viele Preise bekommen.
Gerade ist "Im Schatten der Äpfel" erschienen, eine wunderschöne Sammlung ihrer besten Arbeiten aus vier Jahrzehnten. Gerne war die Psychologin im Ruhestand bereit, dieser Zeitung die Eingangsfrage zu beantworten.
 Erst einmal, so Angelica Seithe, komme es auf eine poetische Idee an: "Ein Schreibeinfall hakt sich fest, vielleicht an einem Kalenderblatt oder einer Szene während einer Autofahrt. Dann habe ich ein Bild, ein Wort oder eine Zeile, womit ich weiterarbeiten kann." Das Verfassen des Gedichtes geschehe dann oft zu einem ganz anderen Zeitpunkt.
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Früher hätte ein Dichter viel stärker als heute die Verslehre beachten müssen, hätte nach einer Fülle von ausgefeilten Regeln Verse zu Strophen und Strophen zum Gedicht zusammengefügt. War er gar so erfolgreich wie Johann Wolfgang von Goethe, dann wurden seine Zeilen später in den Schulen gelesen und mussten auswendig gelernt werden, galten als hohes Bildungsgut.
Viele Bilder stammen aus der Natur, doch eigentlich geht es um Beziehungen und Gefühle
Natürlich beruhte auch Goethes Erfolg darauf, dass er sich keineswegs sklavisch an vorgegebene Regeln hielt. Spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich die meisten Autoren aber noch viel stärker von schematischen Reimen und zwingenden poetologischen Vorschriften abgewandt - sie schreiben "freie Verse". "Ich habe zwar in der Schulzeit noch gereimt", erzählt Angelica Seithe, doch habe sie im Nachhinein den Eindruck, sie hätte sich schon zu Beginn ihres Schreibens von den Reimzwängen frei machen sollen. Viel wichtiger als Reime seien der Rhythmus und die musikalische Qualität der Sprache. Beim Schreiben eines Gedichtes stünden diese Eigenschaften ganz im Dienste der Gestaltung des Inhalts, also der ursprünglichen Idee, die zum Ausdruck gebracht werden soll. Seithe: "Ich wende diese Mittel weitgehend unbewusst an. Es ist wie ein rhythmisches Grundmuster, das Wörter und Sätze zusammenfügt."
Warum schreibt Angelica Seithe Gedichte und nicht etwa Romane? "Ich mag keine langen Texte schreiben", sagt die Autorin, "selbst meine kleinen Erzählungen sind sehr kurz.  Es bedeutet mir etwas, den Rhythmus, die Musikalität der Sprache zu verwenden. Und ich habe die Neigung, etwas kurz und prägnant in einem Bild zu sagen."
Die Ideen für Gedichte sind nicht einfach abrufbar, sie stellen sich in bestimmten Stimmungen ein, entstehen plötzlich oder entzünden sich an einem Erlebnis. Für die spätere dichterische Arbeit hat Angelica Seithe eine bevorzugte Zeit, nämlich den frühen Morgen. Und das, obwohl sie sich als Studentin "eindeutig für einen Nachtmenschen" gehalten hatte. Während einige Gedichte "in einem Rutsch" entstehen und vielleicht sogar einfach unterwegs ins Diktiergerät gesprochen werden, brauchen die meisten "richtig viel Arbeit", bis sie vollendet sind. Und ganz abgeschlossen ist das Gedichtschreiben für Angelica Seithe erst, wenn die Werke in schönem Schriftbild in einem Buch stehen. Denn sie möchte "mein Erleben und meine Gefühle kommunizierbar machen und haltbar über die Zeit".
Oft finden sich in den Arbeiten von Angelica Seithe Bilder aus der Natur: In "Fliedermord" etwa ist die Rede von "Blumen im Eis" und "Vogelstimmen im Fliederbaum". Doch der Inhalt auch dieses Gedichts erschöpft sich nicht in der Betrachtung der Natur. Vielmehr geht es um menschliche Gefühle, um Empfindungen in der Beziehung zu anderen Menschen. Die Autorin fühlt sich daher völlig missverstanden, wenn jemand - wie es einmal vor Jahren im germanistischen Seminar an der Uni Gießen geschah - ihre "kleinen Geschöpfe" (Zitat aus "Gedichte") als bloße "Naturlyrik" abqualifiziert. In ihren sprachlichen Bildern verbinden sich innere und äußere Welt, werden Stimmungen, Gefühle und Erkenntnisse weitergegeben, die sonst nicht zu vermitteln wären.  "Ein Bild muss eine Verwurzelung in der Realität haben. Wenn das stimmt und es gleichzeitig noch eine innere Ebene der Gefühle oder der menschlichen Beziehungen hat, dann ist es gelungen."  Die Bilder können dabei durchaus außerhalb der Logik liegen, die Aussage entsteht sogar oft erst aus dem Zusammentreffen gegensätzlicher oder unzusammenhängender Wortbedeutungen. Seithe spricht davon, dass Gedichte einen Teil ihrer Inhalte nicht durch den am Verstand orientierten Sprachgebrauch transportieren, sondern so, wie Gefühle sich mitteilen. "Wenn man sagt ,ich bin traurig', dann teilt sich das Gefühl nicht mit. Das erfordert einen besonderen Rhythmus, Laute und Bilder." Deshalb können Gedichte Menschen tatsächlich berühren.
Häufig werden dazu Metaphern verwendet, über die Angelica Seithe immer wieder nachdenkt. Diese besondere Form des sprachlichen Bildes hat entscheidenden Anteil daran, ob ein Gedicht gut ist - oder nicht über den belächelten Eintrag im Poesie-Album hinauskommt. Gute Metaphern entstehen nach der Erfahrung der Autorin, wenn sie auf einem starken, intensiven Gefühl beruhen. Dann verbinde sich in ihnen ein Bild mit einer eher gefühlten als verstandenen Bedeutung. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in Seithes Gedicht "Fischer". Darin lässt sie eine Ähnlichkeit entstehen zwischen Fischern und Dichtern. Während erstere auf viele silberne Fischleiber in ihren Netzen hoffen, sind die Dichter auf "Sätze beweglichen Silbers" aus.
Es kommt beim Schreiben durchaus vor, dass ein Gedicht seiner Schöpferin eine neue Erkenntnis bringt. So sei es mit "Schwindel" gewesen. Es habe ihre "Verdrängungsschranke" durchbrochen und ihr vermittelt, was in der Situation Sache gewesen sei, aus der heraus sie den Text geschrieben hatte. Sie zitiert: "Nun auf der Höhe vorsichtig balancierend, sehe ich Dein Netz." Bis dahin hätte sie verdrängt, dass sie damals kein Netz hatte, nichts, was sie hätte sichern können, erinnert sich die Psychologin.

BÜCHER UND PREISE
„Im Schatten der Äpfel“ ist das jüngste Buch von Angelica Seithe. Es ist im eof-Verlag erschienen, kostet 17 Euro und hat die ISBN: 978-3-7412385-0-5. Zuletzt im Jahr 2013 „Regenlicht“ (ISBN: 978-3-9815731-2-1, 10 Euro) und der Kurzgeschichtenband „Berührungen“ (ISBN 978-39540702-7-5, 9,90 Euro).
Angelica Seite wurde im Jahr 2009 mit dem Sonderpreis Lyrik des Nordhessischen Autorenpreises ausgezeichnet und errang sowohl 2012 wie 2014 die Jurypreise beim Hildesheimer Lyrik-Wettbewerb. Mehr auf ihrer Homepage: www.angelica-seithe.de. (ka)
 
 
 
http://www.mittelhessen.de/hessen-welt/aus-politik-und-zeitgeschehen_artikel,-Saetze-beweglichen-Silbers-_arid,743420.html