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1988       Wenn die Treppen aus den Fenstern steigen. Gedichte

1981        Schilflichtung. Gedichte

 

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Die Geburt der Metapher
 
Zur Psychologie ihrer Entstehung

 

Angelica Seithe-Blümer



Es soll von der Entstehung der Metaphern die Rede sein, der Entstehung jener verdichteten Bilder unserer Sprache, wie sie uns in der Lyrik begegnen, aber mitunter auch im therapeutischen Gespräch oder im Tagtraum - wenn etwa ein 12jähriges Mädchen im KB von einem verheulten Waldboden spricht, der sich unter ihrem imaginierten Baum befindet.
 
Wie kommen diese Sprachgebilde zustande? Wie sind die unbewussten Vorgänge zu fassen, bei denen sich Worte und Bilder einander ursprünglich fremder Bedeutungszusammenhänge neu kombinieren? Was sind die psychologischen Grundlagen dieser Abläufe? Wozu dienen sie? Und gibt es ein psychologisches Modell, das diese Vorgänge plausibel beschreibt?
 

Der poetische Einfall

Wenden wir uns jedoch zunächst einem Dichter zu, der versucht, die Entstehung eines eigenen Gedichtes aus dem ihm zugänglichen Erlebniskontext heraus näher zu beschreiben.
Die Schilderung entstammt dem Mitschnitt eines Interviews mit Reiner Kunze, das der hessische Rundfunk (hr2-Kultur - Doppelkopf) im April 2008 ausgestrahlt hat.

Kunze bezieht sich im Folgenden auf zwei Verszeilen aus dem 1996 entstandenen Gedicht „Lied“ (aus dem Band: „ein tag auf dieser erde“). Sie heißen : „Als bete der bach in den wiesen, / so viele buchten hat er ausgekniet“. Reiner Kunze spricht, bezogen auf diese „Art Einfälle“, die ihm kommen, von einer angeborenen „Denkschaltung“. Aber hören wir ihm erst einmal zu!  
Zitat:
„Ich habe einmal eine Zeitlang in der norddeutschen Tiefebene zugebracht als Mittelgebirgler. Und diese Tiefebene machte auf mich einen eher bedrückenden, eher depressiven Eindruck.
Und dort habe ich einen Bach gefunden, einen wunderschönen, glasklaren Bach, der sehr tief war, bis 2 Meter tief. Und der hatte unendlich viele Buchten gebildet. Und ich ging also an diesem Bach des Öfteren entlang …. Das war ein Erlebnis. Ein ganz anderes Erlebnis, zu einer ganz anderen Zeit – und das lag sogar vorher: In den Alpen kam ich zu einem sehr hochgelegenen Kirchlein. Das lag ganz allein. Das Dorf, das zu diesem Kirchlein gehörte, war verschwunden. Und das Kirchlein war 500 Jahre alt. Ich hab mich hineingesetzt, war ganz allein, und mit der Zeit sah ich die Kniebänke – in den katholischen Kirchen – und diese Kniebänke waren offenbar so alt wie das Kirchlein: sie glänzten … vor lauter Knien, und sie hatten eine Ausbuchtung.
Während ich also noch im Norden war, fielen mir folgende Zeilen ein – nicht in der Ausgeprägtheit, wie ich’s jetzt sage – aber der Grundeinfall führte zu folgenden Zeilen und zwar: „ als bete der bach in den wiesen, so viele buchten hat er ausgekniet“.
Wenn ein solcher Einfall kommt, dann beginnt ein Gedicht, ohne diesen Einfall, … ohne einen Einfall, der mich selbst überrascht und der mir selbst Rätsel aufgibt, entsteht kein Gedicht….“
So weit ein Ausschnitt aus diesem Interview.
      
Realitäten, so Reiner Kunze an anderer Stelle, die gar nichts miteinander gemeinsam haben, ordnen sich im kreativen Einfall einander zu. Dabei ist die neue Ordnung scheinbar unwirklich, mitunter erscheint sie vernunftwidrig und verstößt gegen die Logik. Aber gerade das Widersinnige, das überraschend Widersinnige (im Bild, aber auch in gedanklicher Paradoxie) erhellt die neue Wirklichkeit („Das weiße Gedicht. Essays. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1989). D. h. es vermittelt das diffizile Erlebnisgewebe, das ausgedrückt und nachvollzogen werden soll.
Der poetische Einfall, der in der Verknüpfung von Wirklichkeiten bestehe, die man bis dahin nie miteinander verknüpft gesehen habe, komme von selbst, könne nicht „herbeigewollt“ werden. Reiner Kunze räumt ein, dass der Einfall mit unbewussten Vorgängen zu tun habe und dass ihm eine starke emotionale Betroffenheit vorausgehe. „Ein dichterischer Einfall“, so Reiner Kunze, geht immer auf Erschütterung zurück, auf Betroffensein (auch ein Glücksmoment ist ein Moment der Betroffenheit)“, sagt er. Es seien starke Erlebnisse, mit denen man schließlich nicht anders fertig werden könne als literarisch. („Wo Freiheit ist. Gespräche 1977 – 1993“. S. Fischer, Frankfurt a. M.  1994)
Es gilt also, mit etwas „fertig zu werden“, eine emotionale Erlebnisspannung zu bewältigen, etwas zu bemeistern. In gewisser Weise löst der poetische Einfall diese innere Spannung. Wie das geschehen kann, das werden wir uns noch genauer ansehen.

Nun sind wir abgekommen von unserem Eingangsbeispiel: „Als bete der bach in den wiesen / so viele buchten hat er ausgekniet“.     
Reiner Kunze legt dar, wie sich Wirklichkeiten aus zwei völlig verschiedenen Erinnerungsmomenten plötzlich zusammentun – zu einem neuartigen, widersinnigen, aber zugleich erhellenden und den Dichter selbst überraschenden, wenn nicht elektrisierenden Bild. Er weiß sofort: Aha, das ist es! („Aha-Erlebnis“ beim Finden einer Lösung, „Zeigarnik-Effekt“ (Zeigarnik 1927, zitiert nach Müller-Braunschweig 1984).
Was Reiner Kunze uns verschweigt in diesem Interview, was er einleitend nur unvollständig andeutet, ist das, was ihn emotional stark bewegt und erschüttert hat, so sehr bewegt, dass es zu diesem Einfall kommen musste. Die Motive, die im poetischen Einfall aufleuchten, sind „beten“, „knien“, evtl.  „inständiges Bitten“. Der eingangs erwähnte „bedrückende, depressive Eindruck“ der norddeutschen Tiefebene allein kann es nicht gewesen sein. Es muss etwas anderes hinzutreten, etwas, das wir nur vermuten oder phantasieren können. Es könnte zu tun haben mit existentieller Angst, wie man sie erlebt bei drohendem Verlust, lebensbedrohlicher Krankheit oder quälender Schuld – mithin bei drohendem Verlust von psychischer oder körperlicher Unversehrtheit. Wir wissen es nicht. Was wir aber annehmen können, ist, dass es um eine starke emotionale Bewegung gegangen sein mag und um eine Art des Betroffenseins, die Phantasien vom „Beten“ und „Knien“ gemeinhin nahe legt oder leicht in uns hervorruft.

Übrigens gibt es in dem oben erwähnten Band von Reiner Kunze ein anderes Gedicht vom Knien  (Titel „Wenn du es wissen wolltest“), ebenfalls entstanden im Jahr 1996. Hier heißt es, Zitat: „Doch wenn du wissen wolltest, / was aus uns geworden ist, … // Die menschen meiden die stille // Sie könnten in sich sonst / die Schuld knien hören“. Diese Metapher von einer knienden Schuld könnte ein Hinweis sein auf die Art emotionaler Bewegung, in der auch die Bachmetapher ihren Ursprung haben mag.

Es ist mir wichtig, Ihr Augenmerk auf die emotionale Verfassung des Dichters im Moment seines poetischen Einfalls zu lenken, weil ich glaube, dass sich hierin das eigentliche Agens für die Entstehung der Metapher verbirgt. Das starke Erlebnis, das überwältigende Gefühl, die emotionale Erschütterung sind neben einer gewissen emotionalen Grundeinstellung jener Tiegel, in dem die unterschiedlichen Wirklichkeiten, die in der Metapher zusammentreffen, zu einer neuen Einheit verschmelzen. Ohne das geht es m. E. nicht.
Und auch hier ist es kein blindes, quasi zufälliges Zusammenfügen. Es folgt einer inneren Notwendigkeit. Es ist gesteuert durch ein nach Lösung oder „Erlösung“ suchendes Bedürfnis, dem Bedürfnis, ein inneres Problem zu bewältigen. Diese Problemlösung sieht anders aus als die im Bereich rationaler oder sachlicher Fragestellungen. Hier handelt es sich um die Bemeisterung eines Gefühls, einer Erschütterung, um die Erlangung von Ich-Kontrolle durch Artikulation und Bewusstheit. Aber auch um die Möglichkeit des Mitteilens, des Kommunizierens an andere. Hierin liegt ja die Hoffnung beschlossen, nicht allein zu bleiben mit dem, was getroffen hat und betroffen gemacht hat. Von einem anderen gefühlsmäßig verstanden zu werden, d. h. die emotionale Resonanz eines anderen Menschen zu erfahren, hebt die Einsamkeit auf angesichts des vielleicht bedrückenden oder erschütternden Erlebnisses.
Gefühlsmäßige Resonanz, wirkliches Vermitteln der eigenen Gefühle aber lässt sich rein sprachlich nur erreichen durch averbale Kommunikation wie sie im paradoxen oder bildhaften Überraschungsmoment der poetischen Metapher gegeben ist. Hier erschließt sich dem anderen, wenn er dafür offen ist, das Gefühl, das den dichtenden Menschen bewegt hatte – freilich verändert und erweitert um die eigenen Assoziationen.
 
Wir wissen also jetzt, dass bei der Entstehung einer Metapher zwei völlig verschiedene Wirklichkeiten miteinander verknüpft werden, und dass über diese Verknüpfung ein neuartiger Aspekt von Wirklichkeit entsteht, der etwas Geistig-Seelisches auszudrücken imstande ist. Wir wissen weiter, dass das auszudrückende seelische Moment in Form einer meist starken emotionalen Betroffenheit maßgeblich an der Selektion der zu verknüpfenden Bildelemente und Erinnerungsbruchstücke beteiligt ist. Ich möchte sogar sagen, dass die wie immer geartete seelische Bewegung den Motor abgibt für diese Verknüpfungstätigkeit des Unbewussten, d. h. dass sie diese zielgerichtet in Gang setzt.   


Das sprachliche Bauprinzip der Metapher

Nun ist es Zeit, uns einmal das sprachliche Bauprinzip der Metapher anzuschauen. Dabei hilft es zunächst, auf den Wortursprung zu verweisen. Metaphora heißt griech. „Übertragung“. Es wird also etwas übertragen von einem eigentlichen zu einem übertragenen Ausdruck. Der übertragene sei, so die einschlägige Literatur, in der Regel ein „bildhafter Ausdruck zur Veranschaulichung von etwas Geistig-Seelischem. Zwischen dem eigentlichen und dem übertragenen Ausdruck bestehe eine Ähnlichkeit, ein sog. „tertium comparationis“.

Wie verhält es sich hiermit bei unserem eingangs angeführten Beispiel der 12jährigen Patientin? Sie spricht von einem „verheulten Waldboden“ unter ihrem Baum, während sie mit ihrer eigenen Verzweiflung und Traurigkeit in Berührung kommt. Das Gefühl, dem Weinen sehr nahe zu sein, wird auf den Waldboden verschoben. Verheult ist normalerweise das Gesicht oder ein Kissen, auf dem man liegt, wenn man weint. Der Waldboden ist feucht vom Regen, das Kissen (oder Gesicht) feucht von Tränen, d. h. es ist verheult. Das verheulte Kissen und der ebenfalls feuchte Waldboden werden nun zusammengeworfen (? Symbol) aufgrund dieses vergleichbaren Aspekts Feuchtigkeit („tertium comparationis“). Und der Ausdruck des Verheulten wird mitsamt der ihm anhaftenden Gefühlsnuance auf den Waldboden übertragen. – Daraus ergibt sich der diskrete Hinweis darauf, dass der Baum, mit dem die Patientin im Bild identifiziert ist, schon viel geweint hat und ihm auch jetzt zum Heulen zumute sein mag.

Auch bei unserem literarischen Beispiel haben wir es mit einem „tertium comparationis“ zu tun. Sie erinnern sich: „Als bete der bach in den wiesen / so viele buchten hat er ausgekniet“. Hier schlägt zunächst die ähnliche Form eine Brücke. Der Bach hat viele Buchten gebildet, und die Kniebänke in dem Kirchlein sind ausgebuchtet. Diese zugrunde liegende Ähnlichkeit in der Form wird zum Anlass für die Übertragung. Übertragen wird das Ausgeknietsein der Bänke vom vielen Knien und Beten. Dieser affektnahe Aspekt des Kniens und Betens – vermutlich korrespondierend mit einem unbewussten Gefühl oder Bedürfnis des Dichters in seiner aktuellen Situation - wird auf den Bach übertragen (man könnte auch sagen „verschoben“): „als bete der bach in den wiesen“. Der Bach wird zum Träger dieser emotionalen Szenerie, zum Träger von einem Stück Innenleben des Dichters.             

Das verbindende Dritte, eine meist sinnlich erlebbare Ähnlichkeit, löst die Übertragung aus, wobei dem Gegenstand, auf den der übertragene Ausdruck fällt, Wesensmerkmale zugesprochen werden, die er ursprünglich gar nicht hatte. Er wird zum Träger einer Projektion.
 
Der mit Übertragung belegte Gegenstand wird in diesem Sinne zweifellos zum Symbol. Dennoch besteht zwischen Symbol und Metapher ein Unterschied. Das Symbol ist seiner engeren psychologischen Bedeutung nach (also neben der des Zeichens und des Sinnbilds) ein individuell oder kollektiv konstanter Vorstellungsmodus, auf den ein meist unbewusster Inhalt übertragen worden ist. Es äußert sich außer in Worten auch in Handlungen und Traumbildern, existiert also auch in außersprachlichen Bezügen. Die Metapher dagegen ist eine reine Sprachfigur, auch wenn sie ihren Bedeutungsgehalt aus dem Symbol bezieht. In diesem Sinne sind unsere imaginierten Bilder im therapeutischen Tagtraum oft Symbole, aber durchaus nicht immer Metaphern. Den Traum- und Tagtraumbildern fehlt meist die sprachlich begrifflich gefasste Übertragung. Sie beschreiben das Symbol, das imaginierte Bild, mit Worten, aber sie liefern nicht zwangsläufig in diesem Bild auch sprachlich gefasst seine Bedeutung mit, wie das die Metapher kann. (Ausnahme und daher bemerkenswert ist hier der „verheulte Waldboden“ des 12jährigen Mädchens.) Dieser, in der Sprachkonstruktion niedergelegte Bedeutungsüberschuss des Übertragenen macht die Metapher dem Symbol gegenüber zu dem, was sie ist. Dieser sprachlich gebahnte Zugang zum Erkennen oder auch nur Erahnen einer Bedeutung im dargebotenen Bild, das ist das Charakteristische. Es führt zu einem plötzlichen Gewahrwerden von innerer Wirklichkeit, die aufleuchtet. Diese geht hervor aus der sprachlich gefassten Verschränkung und Verdichtung des Bildes mit dem übertragenen Wesenszug.
Ein Beispiel: „Noch füllen die leeren Krüge / sich mit alten Gesängen“ (Christine Busta).
 
Die Metapher ist also, so die Sprachwissenschaftlerin Brigitte Spreitzer (2010) im Gegensatz zur „immer auch außersprachlichen Referenzialisierung des Symbols“ ein sprachlich operierendes Phänomen. Es handele sich um eine rhetorische Figur, bei der die semantisch zu kongruenter Bedeutung zusammengefügten Elemente zugleich ihre ursprüngliche Wortbedeutung noch weiter mit sich führten, ihre „semantische Inkongruenz“ also „nicht getilgt“ werde.(Kurz, 2000, zitiert nach Spreitzer, 2010) So bei einer Metapher der Dichterin Ingeborg Bachmann: „vom Rauch behelmt“ (aus „Mein Vogel“ in „Anrufung des großen Bären“). Hier sind sowohl der Rauch als auch der Helm semantisch nach wie vor identifizierbar und gelangen durch die Sprachkombination dennoch zu einem neuen sinnhaltigen Ausdruck.
Wie wir wissen, schafft es die Metapher bei dieser Operation, Bedeutungen aus einem Zusammenhang (Helm = Schutz des Kopfes) in einen anderen zu übertragen, ohne dass sprachlich ein direkter Vergleich zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem vorliegt. Oft bedient sie sich wie hier der bildhaften Übertragung. Immer aber ist die Übertragung sprachlich vermittelt durch Verschiebung der Bedeutungszusammenhänge.
Beim klassischen Traumbild, beim imaginierten Symbol dagegen sind Hinweise auf eine Bedeutung sprachlich nicht sozusagen eingebaut. Es besteht kein das Symbol festlegender sprachkonstruktiver Bedeutungszusammenhang. Wir müssen die Bedeutung des Bildes meist im Kontext erschließen. Die Metapher aber lässt aus ihrer sprachlichen Gestalt heraus Sinn aufleuchten. Sie transportiert – oft überraschende – Erkenntnis dadurch, dass in der Sprachkonstruktion die semantischen Inhalte der an der Verdichtung beteiligten Komponenten trotz des Zusammenschlusses weiter fortbestehen – dabei aber zugleich der emotionale Bedeutungshof des einen auf den anderen Inhalt übertragen wird. Dadurch kommt die oft „verrückte“, d. h. widernatürliche oder alogische Sprache der Lyrik zustande. Trotzdem empfinden wir sie, wie z. B. bei der zum Bild gewordenen Metapher „vom Rauch behelmt“, auf Grund ihres sinnlich anschaulichen Aspektes sofort als stimmig, obgleich doch in der Realität gerade der Rauch kein Schutz ist für den Kopf (Atmung), sondern tödliche Gefahr. Die an der Realität orientierte Logik unseres bewussten Denkens gerät hier außer Acht. Aber gerade das und ihre Bildhaltigkeit machen die Metapher zu einem Vehikel emotionaler, sprachlich fast nicht sagbarer Wirklichkeit.    


Die tiefenpsychologischen Mechanismen

Damit sind wir bei den tiefenpsychologischen Vorgängen, die diesen Prozessen zugrunde liegen. Lassen Sie uns einen Blick auf jene Mechanismen werfen, die die oben erwähnten neuen Verknüpfungen hervorbringen. Schon Reiner Kunze hatte darauf hingewiesen, dass der poetische Einfall nicht bewusst, d. h. willentlich herbeigedacht werden kann. Er bahnt sich im Unbewussten an. Wie geht das? Wie sollen wir uns das vorstellen?

Sie wissen, dass sich im Unbewussten alle nicht bewussten psychischen Inhalte vorfinden, all das Unterschwellige, Vergessene, Übersehene und Verdrängte unseres psychischen Erlebens. Das Unbewusste verfügt über diese Inhalte, es verfügt über sie nach eigenen Denkgesetzen, die sich von denen des Bewusstseins unterscheiden – sowohl energetisch, als auch in ihrer Zielorientierung. Freud hat dieses Denksystem, nach dem unser Unbewusstes funktioniert, den Primärprozess (oder Primärvorgang) genannt und hat ihn vom Sekundärprozess unseres bewussten Denkens abgegrenzt.    
Im Primärvorgang finden sich noch Funktionsweisen aus den frühen Stadien unserer Entwicklung, die besonders im Traum oder traumnahen Zuständen (Trance, Imagination), aber auch unter dem Einfluss starker Emotionen wieder aktiv werden. Der flexible Zugang zu solchen primärprozesshaften Funktionsweisen, besonders wenn sie im Wechsel zu sekundärprozesshaftem Denken genutzt werden können, hat starke Bezüge zum kreativen Denken und insbesondere zum künstlerischen Schaffensprozess. Wir werden sehen warum.

Einige Autoren, so der Säuglingsforscher Stern und der Neurobiologe Scheuler haben auf die Amodalität (Stern, 1985) oder Kommodalität (Scheuler, zitiert nach Salvisberg, 2000)  des frühen Denkens, bzw. Wahrnehmens hingewiesen. Das läuft auf die Tatsache hinaus, dass erstens für den Säugling jede sinnliche Erfahrung der äußeren Welt mit Emotionen verbunden ist, d. h. seine gesamte Wahrnehmung von Dingen, Menschen und Handlungen einen Gefühlston hat, und dass zweitens in diesem Alter sinnliche Erfahrungen unterschiedlicher Sinnesmodalitäten (Farben, Tastempfindungen, Gerüche, Klänge) noch austauschbar sind, austauschbar auch mit Erfahrungen anderer Kategorien und Klassen (Zeit, Körperzustände, geistige Funktionen, seelische Befindlichkeiten u. a. m.). – Das heißt, das Erleben des Säuglings ist in diesem Sinne noch sehr ganzheitlich („global“), d. h. noch nicht ausdifferenziert.

Im Primärprozess haben sich diese frühen Denk- und Verknüpfungsmodi erhalten. Alle Wahrnehmungsinhalte, Abbildungen der Außenwelt und sinnlichen Empfindungen sind hier mit Gefühlen verbunden. Und umgekehrt stehen alle Gefühle mit sinnlicher Erfahrung in Verbindung. Alle Sinnes- und Wahrnehmungsbereiche sind kombinierbar, können sich vertreten und miteinander austauschen. Die Kombinations- und Austauschprozesse (Assoziationen) ordnen sich nicht (wie im bewussten Denken des Sekundärprozesses) nach der Realität. Sie ordnen sich vielmehr nach der sinnlichen und gefühlsmäßigen Qualität, die den Denk- und Wahrnehmungsinhalten anhaftet. Die Gesetze der auf die äußere Realität bezogenen Logik sind aufgehoben. Die Kombinationen können daher logisch widersprüchlich, ja alogisch und scheinbar widersinnig ausfallen.     
Beim Zugang eines reifen Menschen zu diesen Denkmodi wird es deshalb wieder möglich, synästhetische und alogische Denkmuster hervorzubringen, z. B. wenn Farben schreien oder wenn ein „ton“ nach holz „duftet“ (Reiner Kunze) oder wenn wir von einem „hauchdünnen Schlaf“ hören, über den „nur Vögel gehen können“ (Christine Lavant). So auch bei logisch sich widersprechenden Aussagen über erlebte Zeit, z. B. „Jahre schon an diesem Tag“ (A. S.).

Salvisberg macht übrigens mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass primärprozesshaftes Denken beim Erwachsenen keineswegs als etwas im pathologischen oder unreifen Sinne Regressives zu bewerten sei, sondern als eine Fähigkeit, die das bewusst logische Denken auf kreative Weise wertvoll ergänze - so etwa, wenn „durch die Umschaltung auf die Schiene des Gefühls“ hier allgemein eine Lockerung der Assoziationen und damit auch der Kombinationen von logischen Klassen eintrete (Salvisberg 2000). Dies kommt zugegebenermaßen auch in pathologischen Denkmustern vor, hier aber unflexibel und der Realitätskontrolle des Sekundärprozesses gänzlich entzogen (z. B. beim schizophrenen Denken).

Weil das ordnende Prinzip im Unbewussten also nicht die Realität ist, werden übrigens auch äußere und innere Wirklichkeit nicht mehr kategorisch getrennt gehalten. Inhalte der äußeren Wahrnehmung verbinden sich, wenn wir im Primärprozess erleben, ganz natürlich mit Eindrücken innerer Befindlichkeit (emotional-sinnliche Ähnlichkeit vorausgesetzt). Die Grenze zwischen innerer und äußerer Realität wird durchlässig – zumindest für einen Moment. Projektion und Introjektion bestimmen die Wahrnehmung. So kann es geschehen, dass eine zerrissene, zerklüftete Bergkette, also eine wahrgenommene Struktur in der äußeren Erscheinungswelt, in uns ein Gefühl von Trennung und innerer Zerrissenheit auslöst. Denn alle Wahrnehmungsinhalte der äußeren Welt - so auch die zerrissene Bergkette - alle Sinneseindrücke, ob visuell, akustisch oder taktil, sind im Primärprozess immer mit Gefühlen verbunden, die sich mit Gefühlswahrnehmungen aus der inneren Welt abgleichen. Umgekehrt ist auch das Gefühl mit sinnlichen Erinnerungsspuren verbunden, welche die Tendenz haben, sich mit ähnlichen Wahrnehmungseindrücken aus der Außenwelt zu verknüpfen (Beispiel: zerrissene Bergkette, ausgebuchtete Uferbänke). Im Falle einer sinnlich-strukturellen, z. B. formgemäßen Passung führt dies zum Zusammenschluss und zugleich zur Übertragung des Gefühls auf den äußeren Eindruck.
Dieser Passungsvorgang aber dient offenbar einem übergeordneten Bedürfnis.

Kombinieren sich bei primärprozesshaften Denkvorgängen die Wahrnehmungsinhalte vor allem nach ihrer sinnlichen und gefühlsmäßigen Qualität, ist ihr Assoziiertwerden also von sinnlich-emotionaler Ähnlichkeit bestimmt und besteht darin das ordnende Gesetz - so bleibt immer noch etwas anderes rätselhaft: Wie kommt es, dass die neue Verknüpfung das in Frage stehende Problem so passend beantworten kann? Was steuert diese offenbar zielgerichtete Auswahl von möglichen Lösungen?
Wir hatten ja den Eindruck, dass die Verknüpfung keineswegs blind oder zufällig erfolgt, sondern dass sie eine angemessene Lösung zum Bewältigen einer Problemsituation beiträgt. Denken Sie an: … „als bete der bach in den wiesen, so viele buchten hat er ausgekniet“. Wenn die Kombination von Erinnerungs- und Wahrnehmungsinhalten also sinnvoll und zielorientiert abläuft, dann muss noch eine andere Kraft wirksam sein. Es muss eine zusätzliche Dynamik geben, die auf die Findungs- und Auswahlprozesse (unseres Wahrnehmungs- oder Erinnerungsmaterials) Einfluss nimmt.
 
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Bevor wir hierauf eine Antwort finden, ist es sinnvoll, uns Freuds Konzept vom Primär- und Sekundärvorgang noch einmal systematisch (d. h. in Gegenüberstellung) vor Augen zu führen. (vgl.: Laplanche, J.,  Pontalis, J.-B., 1980)


PRIMÄRVORGANG                                          SEKUNDÄRVORGANG
      
Funktionsweise des Unbewussten:

symbolisch bildhaftes Denken  
     Funktionsweise des Bewussten u. des  Vorbewussten:
waches Denken, Aufmerksamkeit, Entscheidung, Urteilsvermögen, kontrollierte Handlung;
Regulierende Funktion durch Ich-Bildung ermöglicht: Hauptaufgabe, den Primärprozess zu hemmen
Energie frei fließend;
dadurch größere Beweglichkeit der Inhalte mit der Möglichkeit, neue Kombinationen und Assoziationen einzugehen     Energie gebunden,
bevor sie in kontrollierter Form abströmt

Wirkdynamik: Lustprinzip
    Wirkdynamik: Realitätsprinzip
Denkgesetze:
-    Verdichtung
-    Verschiebung
-    Überdetermination
-    Aufhebung des Satzes vom Widerspruch
-    Assoziation weitgehend bestimmt von sinnlich-emotionaler Qualität    Denkgesetze:
-    Logik
-    Abbildung der Realität
-    Assoziation bestimmt von Realität

Verdichtung: In einer einzigen Vorstellung können alle Bedeutungen zusammenfließen, die durch die sich dort kreuzenden Assoziationsketten herangetragen werden.
Z. B. eine Sammelperson im Traum: gemeinsame Züge mehrerer Personen führen zur Schaffung einer Sammelperson durch Löschung ihrer nicht gemeinsamen Züge. (Das Gemeinsame der Züge ergibt sich aus gleicher emotionaler Besetzung durch den Träumenden oder aus ähnlich sinnlichen Qualitäten.)

Verschiebung: Einer scheinbar (oft) unbedeutenden Vorstellung wird der ganze psychische Wert, die Bedeutung, die Intensität, die ursprünglich zu einer anderen Vorstellung gehörten, zugeschrieben.
Die Besetzungsenergie ist fähig, sich von einem Inhalt zu lösen, um sich an einen anderen Inhalt zu binden, der mit dem ersteren durch eine Kette von Assoziationen verbunden ist.
 

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Wenn wir uns Freuds Konzept vom Primärvorgang näher anschauen, stoßen wir als Pendant zum Realitätsprinzip des Sekundärvorgangs (= Funktionsweise des Bewussten) auf das sog. Lustprinzip. Es ist konzipiert als eine zielgerichtete Kraft, die im Bereich des Unbewussten nach einer Lösung oder Befriedigung sucht. Wenn wir diesen Begriff nicht auf sexuelle Bedürfnisspannung einengen, sondern in ihm alles versammelt sehen, was der Lösung von Lebens- und Entwicklungsbedürfnissen in einem erweiterten Sinne dient, z. B. auch dem Bedürfnis, belastende Erlebnisse zu bemeistern, dann scheint uns das Lustprinzip zur Erklärung der oben beschriebenen Dynamik durchaus brauchbar. Es ist nämlich sehr wohl ein auf Erlangung von Wohlbefinden ausgerichtetes Prinzip am Werke, wenn es gelingt, etwa ein depressives oder angstvoll bedrängendes Gefühl in eine Metapher zu bannen. Dasselbe gilt für ein fassungslos machendes Liebesgefühl. Indem man es in einem Bild aus sich herausstellt, erreicht man inneren Abstand und macht es kontrollierbar. Reiner Kunze begreift das plötzliche Auftauchen eines poetischen Einfalls als ein Signal, das ihm ankündigt, durch die Ausgestaltung dieses Einfalls im Gedicht mit einer Seite seines Erlebnisses „fertig werden“ zu können. Es gibt also durchaus Ich-Bedürfnisse, die im Rahmen eines solchen Prinzips Entspannung suchen und diesen Vorgang, wenn er sich denn erfüllt, als angenehm, erlösend und damit als prinzipiell lustvoll erleben lassen.
Den metaphorisch bildhaften Ausdruck für ein z. B. sehr schmerzvolles Erleben zu finden, kann paradoxerweise durchaus dem Lustprinzip dienen. Etwas Erschütterndes, Bedrückendes oder auch Verwirrendes sprachlich zu bemeistern, bringt Erleichterung und die Hoffnung mit sich, durch die mögliche Schaffung einer verstehenden Resonanz im anderen Menschen das Alleinsein aufzuheben – übrigens für sich und den andern.    

Mithin entscheidet über den möglichen Zusammenschluss (Assoziation) der Inhalte im Unbewussten, neben der sinnlich-emotionalen Wertigkeit der Bewusstseins- und Wahrnehmungsinhalte, auch die mit ihnen verbundene Bedürfnisspannung. So können hier einerseits Kombinationen zwischen allen Inhalten und zwischen allen Kategorien des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens und Empfindens auftreten, vor allem dann, wenn sie eine gleiche oder ähnliche emotionale Besetzung haben (wie z. B. „das gläserne Erschrecken“ (A.S.) oder die Formulierung „niedergebogene Tage“ (Wilhelm Aigner). Andererseits stehen diese Verknüpfungen zugleich unter dem Einfluss eines Spannung lösenden Bezugs zum gegebenen Problem.  
Wenn wir uns also gefragt haben, warum der poetische Einfall das in Frage stehende Bedürfnis so passend beantwortet, so sehen wir hier ein dynamisch energetisches Prinzip am Werke. Es entspricht demjenigen, das im Bereich des Unbewussten allgemein der Lösung aller Bedürfnisspannungen Rechnung trägt.

*

Lassen sie uns den Prozess der Entstehung der Metapher noch einmal zusammenfassen.
 
Wir wissen, dass zwei einander ursprünglich fremde Wirklichkeiten sich in einem Bild zusammenschließen, dass durch diesen Zusammenschluss der Bedeutungszusammenhang der einen Wirklichkeit auf die andere übertragen wird, dass diese Übertragung in ihrer sprachlich verdichteten Struktur Hinweise hinterlässt auf etwas Neues, Erhellendes und Überraschendes.  

Wir haben gehört, dass sich dieser kombinatorische Schöpfungsprozess im Unbewussten abspielt, im Bereich des Primärprozesses, einer Spielart unseres Denkens, die noch Verbindung hat zu sehr frühen Funktionsweisen unserer Psyche. Diese frühen Muster ganzheitlich sinnlichen Denkens in Bildern mit austauschbaren Sinnesqualitäten (Synästhesien) und  kommodalen Verknüpfungen aller Klassen und Kategorien folgen nicht der Logik unseres bewussten Denkens (Bewusstseins). Sie folgen in ihren assoziativen Verknüpfungen überwiegend sinnlichen und gefühlsnahen Qualitäten. Ihre Produkte, etwa der dichterische Einfall und die Metapher, sind daher - in für die poetische Sprache typischer Weise - alogisch, unwirklich oder paradox, ja durch das Aussetzen der Logik oft scheinbar vernunftwidrig, z. B. „Die Ranke häkelt am Strauche“ (Annette von Droste-Hülshoff) oder „Mit feinen Stichen näht der Regen Luft auf den See“ (Wilhelm Aigner) oder „Der Fluss springt uns mit silbernen Pfoten entgegen“ (A. S.). Aber gerade dadurch erschließt sich, sinnvoll-widersinnig, der neue Sinn und gibt den Blick frei auf etwas, das, wie Sartre sagt, sich „nie ganz denken lässt“ (zitiert nach Reiner Kunze 1989). Aber es ist in der Lage, etwas Gefühltes, eine tiefere, oft innere Realität aufscheinen zu lassen durch eine bildhafte Verschmelzung von Wirklichkeiten, ohne freilich einen Vergleich direkt auszusprechen. So in den Zeilen: „Eine Liebe / die nicht umkehrt / wenn die Brücke bebt“ (A. S.), oder in dem Beispiel eines tschechischen Dichters, auf das Kunze hinweist:  “Leise! Vielleicht weckt ihn das rotwerden der vogelbeeren nicht“ (aus dem Gedicht „Schritte hinter dem Zaun“ von Vit Obrtel).  

Abgesehen vom Traum und traumähnlichen Zuständen (Trance, Imagination) geraten wir besonders dann unter den Einfluss des Primärprozesses, wenn wir stark oder gar überwältigend fühlen (mindestens aber, wenn wir unter dem Einfluss einer deutlichen Gefühlseinstellung stehen). Hierdurch kann bei manchen Menschen eine Art Umschaltung des Denkens erfolgen. Die Bildung emotional-sinnlich motivierter Neuverknüpfungen wird hierbei sehr erleichtert. Sie vollzieht sich zwischen verschiedenen oft emotional ausgewiesenen Bewusstseins- und Wahrnehmungsinhalten. Da in dem betreffenden Menschen meist eine starke affektive Spannung dazu drängt, mit einem schwierigen Erlebnis fertig zu werden, bieten sich dem Bewusstsein gezielt Kombinationen an, die dazu geeignet sind, das Gefühlte erkenntnis- und affektnah in Sprache zu fassen. Meist geschieht das in Bildern, auf die eine Bedeutung aus anderen, oft innerseelischen Zusammenhängen übertragen worden ist. Diese Verdichtung  kommt ohne direkten Vergleich aus, erschließt sich aber über die Verschränkung der Bild- und Wirklichkeitselemente umso deutlicher dem Gefühl. Etwa: „...  keine Tür geht auf ins Gespräch“ (Christine Busta). Die Übermittlung – auch wenn sie durch Sprache geschieht – ist durch ihre bildhafte Qualität sinnlich, d. h. quasi averbal. Das birgt in sich die Möglichkeit, im anderen Menschen eine Resonanz zu erzeugen, das Erlebte dem anderen so zu übermitteln, dass er es originär, d. h. als gefühltes Gefühl, empfangen kann. (Seithe 2000)  

Eine auf Entspannung und Problemlösung ausgerichtete Wirkdynamik sorgt dafür, dass der Primärprozess in seiner gefühlsassoziativen Aktivität lösungsrelevante, d. h. passende Kombinationen aufspürt. Das heißt, die von ihm dem Bewusstsein (dem Sekundärprozess) zur Überprüfung angebotenen Verknüpfungen dienen zielgerichtet der Möglichkeit, die gefühlte Wirklichkeit neu und überraschend auszudrücken, zu bewältigen und zu befrieden.

Diese Wirkdynamik aber ereignet sich im „noch rauchenden Schutt“ unseres primärprozesshaften Denkens - dort, wo es, wie Ingeborg Bachmann sagt, nach einer befeuernden Erschütterung noch „knistert(’s) im dunklen Bestand“. Aus diesem „dunklen Bestand“, aus diesem spannungsgeladenen Reservoir ihres Unbewussten, nimmt die  Dichterin den Funken für die kreative Wiederbelebung.
Danach aber wird sie sich mit den bewussten (sekundärprozesshaften) (aber auch immer wieder mit den unbewussten) Möglichkeiten an die Arbeit machen und ihren poetischen Einfall sprachlich weiter gestalten.



Literatur

Aigner, Ch. W. (1998) : Die Berührung. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart
Bachmann, I. (1956) : „Mein Vogel“ in „Anrufung des großen Bären“ Piper, München.
Busta, Ch.  (1975) : „Salzgärten“, Otto Müller Verlag, Salzburg.
Kunze, R. (1989): Das weiße Gedicht. Essays. S. Fischer Verlag, Frankfurt.
Kunze, R. (1994): Wo Freiheit ist ….Gespräche 1977 – 1093. S. Fischer Verlag, Frankfurt.
Kunze, R. (1998): ein tag auf dieser erde. gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt.
Laplanche, J.,  Pontalis, J.-B. (1980). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main,
     Suhrkamp.
Lavant, Ch. (1956):  Die Bettlerschale. Otto Müller Verlag, Salzburg.
Müller-Braunschweig, H.(1984): Unbewusster Prozess und Objektivierung. Freiburger
      Literaturpsychologische Gespräche 3. Peter Lang, Frankfurt/M..
Salvisberg, H.(2000): Bild – Sinnbild – Sinn. Von den Sinnen zum Sinn oder: Der andere
      Baum der Erkenntnis. In: Salvisberg, H., Stigler, M., Maxeiner, V. (Hrsg.): Erfahrung
      träumend zur Sprache bringen. Huber, Bern.
Scheuler, W. (1999):   zitiert nach Salvisberg, H. (2000)
Seithe, A.(2000): Die Rolle des Bildes bei der verbalen Kommunikation von Gefühlen. In:
     Salvisberg, H., Stigler, M., Maxeiner, V. (Hrsg.): Erfahrung träumend zur Sprache
     bringen. Huber, Bern.
Seithe, A. (2009):  Über der strömenden Zeit. Gedichte. Neues Literaturkontor, Münster.
Seithe, A. (2005):  Brombeerhimmel. Gedichte. Demand-Verlag, Waldburg
Spreitzer, B.(2010): Literaturwissenschaftliche Theorien des Symbols – Symbole in der
      Literatur. Imagination 32/3, 18-35.
Stern, D. (1985, 1992):  Die Lebenserfahrung des Kleinkindes. Klett-Cotta, Stuttgart   
 

*

Abstract
 
Authentische Selbstbeschreibung (Reiner Kunze) zeigt, wie sehr die Entstehung poetisch verdichteter Bilder abhängt vom Einfluss starker emotionaler Betroffenheit. Diese hat eine Affinität zum primärprozesshaften Denken unseres Unbewussten und steht damit in enger Verbindung zu frühen Funktionsweisen der Psyche, bei denen Synästhesien, amodale und kommodale Denkmodi, Verdichtungen und eine vom Gefühl her bestimmte Verknüpfungstätigkeit vorherrschen. Das Alogische der Metapher, bei gleichzeitig emotionaler Stimmigkeit, kann hieraus leicht abgeleitet werden. Dabei steuert eine auf emotionale Problemlösung ausgerichtete Wirkdynamik die Passgenauigkeit dieser kombinatorischen Prozesse.

* * *       

Vortrag beim internationalen Kongress der ÖGATAP und AGKB/DGKIP in Goldegg 2011 

Erstveröffentlichung:  Imagination 1-2 / 2012

 


 

Kreativität – Rausch und Disziplin

Angelica Seithe-Blümer


Kreativer Rausch und Disziplin, ein Gegensatz, unvereinbar, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat ….
 
Disziplin ist eine Eigenschaft, die in der Klischeevorstellung vom chaotischen Künstler nicht vorkommt. Den stellt man sich eher als einen Menschen vor, der es mit Ordnung und Pünktlichkeit nicht so genau nimmt, der sich lässig, wenn nicht nachlässig kleidet, vielleicht sogar ein wenig ungepflegt daherkommt, emotional sprunghaft ist, mitunter labil, desorientiert, auf jeden Fall spielerisch und Bedürfnis orientiert. Ein landläufiges Vorurteil, das selbst den kreativen Wissenschaftler nicht vollständig verschont.
Und ist es gänzlich falsch? Oh, es kann richtig sein, aber auch falsch zugleich. Selbst ein so grenzüberschreitendes Genie wie Picasso soll geregelte Arbeitsabläufe bevorzugt haben (Holm-Hadulla, 2011).

Neulich hörte ich von einem Interview mit Daniel Kehlmann, in dem der bekannte Schriftsteller (Die Vermessung der Welt u. a.) äußerte, er habe kein Internet, - jedenfalls nicht in Zeiten, wo er schreibe. Es lenke ihn ab.

Reiner Kunze setzt den Besucher seines Arbeitszimmers in Erstaunen: Sein Schreibtisch sehe so „aufgeräumt“ aus. Und der Dichter spielt sofort mit den Worten: „aufgeräumt“, das sei er wohl selbst, wenn er an seinen Schreibtisch trete.   

Von dem berühmten Regisseur Fassbinder wird im Radio berichtet, er habe am Set äußerst diszipliniert gearbeitet, mit hoher Konzentration, habe jede einzelne Szene genauestens vorbereitet, habe nichts dem Zufall überlassen.

Lassen Sie mich noch eine eindruckvolle Äußerung anfügen, die ich in Horst Bieneks „Werkstattgespräche mit Schriftstellern“ gefunden habe. Marie-Luise Kaschnitz berichtet dort in einem Interview folgendes: "Wenn ich, wie jetzt, an einer längeren Prosaarbeit bin, dann nehme ich mir vor, ein tägliches Pensum (2 3 Seiten) zu erfüllen. Das heißt, mich an den Schreibtisch zu zwingen, auch wenn ich nicht die geringste Lust habe oder fürchte, dass mir nichts einfallen wird." ... Das Schwierigste ist "eben die Konzentration. Auch das Ich lasse dich nicht, d. h. die Kraft, bei der Sache zu bleiben, bis man die Genauigkeit erreicht hat ..." (Bienek, 1962).

Und doch müssen diese Menschen, um kreativ zu sein, d. h. etwas Neues zu schaffen (durch Neukombination von Informationen, Holm-Hadulla 2011, S.71),  die herkömmliche Ordnung der Dinge loslassen können. Sie müssen spielerisch sein, sich beeindrucken und vorübergehend labilisieren lassen. Sie müssen die alten Strukturen nicht nur loslassen, sondern verflüssigen, wenn nicht zerstören, um Neues zu finden. Und das dadurch entstehende Chaos darf sie nicht schrecken.

Im Gegenteil, sie müssen bereit und fähig sein, in der die Inspiration vorbereitenden Phase (in der Kreativitätstheorie zuweilen Inkubation genannt) ein gewisses Maß an chaotischer Unordnung zu ertragen, indem sie sich einem ungelösten Thema über längere Zeit hindurch überlassen und die damit verbundene Spannung aushalten. Was eine ganz besondere Form von Selbstdisziplin darstellt … „bei der Sache zu bleiben“, wie Marie-Luise Kaschnitz sagt, „bis man die Genauigkeit erreicht hat“. 

Schon Nietzsche betont die zerstörerischen Aspekte des Kreativen. Für ihn wird das Chaos geradezu zur Bedingung des Schöpferischen. „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ (Nietzsche, zitiert nach Holm-Hadulla, 2011)
Auch für ihn also entsteht das Neue durch ein Zerstören des Althergebrachten.

Aber dann spricht Nietzsche auch von der Offenbarung. Gemeint ist das, was die moderne Kreativitätstheorie mit Inspiration oder Illumination bezeichnet. Mit „unsäglicher Sicherheit und Freiheit werde plötzlich, so Nietzsche, etwas „sichtbar, […] etwas, das einen „im Tiefsten erschüttert und umwirft. Man hört, man sucht nicht; man nimmt – man fragt nicht, wer das gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit der Notwendigkeit in der Form, ohne Zögern […] ein vollkommenes Außer-sich-sein […] Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturm von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit“ (1888-1889/1988, VI, S.339, zitiert nach Holm-Hadulla, 2011).

So beschreibt Nietzsche den Rausch der Inspiration. Es ist jener Moment, in dem sich das Chaos zu einer neuen stimmigen Ordnung formiert, der Moment, wo die inkohärenten Zustände, wie die moderne Psychologie sagt, eine Phase von Kohärenz erreichen, was hohen Belohnungswert hat.

(Kohärenz = Zusammenhang; Kohärenzfaktor = die durch räumliche Nachbarschaft, Ähnlichkeit, Symmetrie o. ä. Faktoren bewirkte Vereinigung von Einzelempfindungen zu einem Gestaltzusammenhang)

Die inkohärenten Zustände, das sind gemäß der Kreativitätstheorie jene Phasen, in denen die Lösung verzweifelt gesucht wird, in denen ausgehalten werden muss, dass die alte Ordnung nicht mehr gilt und die neue noch nicht erreicht wurde (das Chaos). Oft ist die Suche hier ermüdend und über lange Strecken vergeblich. Trotzdem ist es wichtig, durch angestrengtes Suchen auf der bewussten Ebene, auch im Unbewussten eine intensive Bedürfnisspannung in Richtung Problemlösung (Zeigarnik, 1927) zu erzeugen. Denn es ist letztlich diese unbewusst regressive Ebene, in der sich die kreativen Lösungen vorbereiten – und zwar durch Neukombinationen ihrer Inhalte (Seithe, 1997, 2000) .Während dieser Vorgänge muss die Aufmerksamkeit u. U. zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen in der Schwebe gehalten und zugleich die enorme Spannung eines ungelösten Problems ausgehalten werden (Müller Braunschweig, 1984). Das wiederum erfordert Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz, mithin Disziplin.
Wenn sich aber diese enorme Spannung löst, weil das unbewusste Suchsystem dem Bewusstsein eine stimmige Lösung anbietet, wenn sich das Chaos also zu einer Ordnung, das Unzusammenhängende (Inkohärente) zu einer neuen guten Gestalt, zu einer stimmigen Einheit (Kohärenz) formiert, dann erleben wir ein Glücksgefühl, einen rauschhaften Zustand – es ist das Zusammenpassen von Bedürfnis und Welt, von Innen und Außen, von Freiheit und Geborgenheit zugleich, es ist das Gefühl, ganz zu sein und heil und doch ein harmonischer Teil dieses Ganzen. 
 
Das Wohlgefühl, dieser Rausch, mit dem die Inspiration einhergeht, hat übrigens ein neuro-biologisches Korrelat. Wahrscheinlich fungiere, so Holm-Hadulla (2011), das Erreichen hoher Kohärenz als ein Signal dafür, dass ein Lösungsergebnis erreicht wurde. Das wiederum aktiviere ein entsprechendes Bewertungssystem. Die Aktivierung eines Bewertungssystems aber gehe immer mit positiven Empfindung einher (Holm-Hadulla, 2011).

Die Psychoanalyse findet ihre eigenen Erklärungsmuster für dieses rauschhafte Erleben im Moment der Lösungsfindung, - die sich aber nicht grundsätzlich im Widerspruch befinden mit neuro-biologischen Erkenntnissen und Beschreibungsmustern.
 
Aber lassen Sie mich vorher noch ein Beispiel bringen von einem Schaffensmoment, bei dem sich das kreative Material in einer Art rauschnahem Dämmerzustand quasi schubartig aus dem Betroffenen heraus wirft.
 
Der Lyriker Gottfried Benn beschreibt die Entstehung seines berühmten Zyklus ,Morgue’ folgendermaßen:
,Als ich die ‚Morgue’ schrieb, mit der ich begann und die später in so viele Sprachen übersetzt wurde, war es abends. Ich wohnte im Nordwesten von Berlin und hatte im Moabiter Krankenhaus einen Sektionskursus gehabt. Es war ein Zyklus von 6 Gedichten, die alle in der gleichen Stunde aufstiegen, sich herauswarfen, da waren, vorher war nichts von ihnen da; als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall." (Bienek, 1962)

Nun aber zum Erklärungsmodell der Psychoanalyse. 
In der psychoanalytischen Literatur wird im Hinblick auf das Hochgefühl im Moment der Inspiration von einem glückhaften Gefühl wiedererlangter Einheit, Ganzheit und Wertschätzung gesprochen und das Urbild für dieses rauschhafte Erleben in der ursprünglichen Verschmelzung des kleinen Kindes mit dem guten Objekt gesehen (Müller-Braunschweig, 1984).

So habe die Aktivierung einer schöpferischen Qualität anfangs der Überwindung von Trennungsangst gegolten. Das teilweise durch Trennungen verunsicherte Kind, so wird gesagt, könne unter günstigen Umständen lernen, sich das Erlebnis von Widerspiegelung, Ganzheit und Wohlbefinden zumindest teilweise selbst zu schaffen, indem es sich etwa durch Laute und Worte oder durch besondere optische Phantasien "die spiegelnde Umwelt" der frühen Mutter herstelle. Das Kind erlebt sich hierdurch unabhängiger, autonomer und vor Verlassenwerden stärker geschützt (Müller Braunschweig, 1984; Seithe, 1996).

Diese primäre Kreativität hat Ähnlichkeit mit einem Übergangsobjekt, in dem sich das kleine Kind einen Ersatz für die abwesende Mutter schafft.

Beim Übergangsobjekt ist es der weiche Lappen, der Bettzipfel oder die Puppe. Sie sind Niederschlag einer Beziehung und deshalb für das Kind von unschätzbarem Wert. Sie überbrücken die, auf dieser Entwicklungsstufe noch nicht vorhandene Fähigkeit, ein inneres Bild von der Mutter zu vergegenwärtigen, d. h. Repräsentanzen zu bilden. Im Übergangobjekt kann die missliche Realität einer vorübergehend fehlenden Mutter und die damit verbundene Trennungsangst spielerisch ausgeglichen werden.

Mit zunehmender Reife freilich wird das Kind - wie später der Erwachsene - zunehmend unabhängig vom konkreten Gegenstand. Es spielt, um innere und äußere Realität zu vermitteln, mit Gedanken, Vorstellungen und Phantasien - und erreicht so emotionale und kognitive Kohärenz (Holm-Hadulla, 2011). Dieser intermediäre Erfahrungsbereich aber, so Winnicott, „der dem Säugling zwischen primärer Kreativität und objektiver, auf Realitätsprüfung beruhender Wahrnehmung gewährt wird, und der nicht im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur inneren oder äußeren Realität in Frage gestellt wird, […] bleibt das Leben lang für außergewöhnliche Erfahrungen im Bereich der Kunst, der Religion, der Imagination und der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit erhalten“ (Winnicott, 1971, S. 25, zitiert nach Holm-Hadulla, 2011). 
 
Aber auch später im Leben, so möchte ich behaupten, hat das gelungene Werk neben anderem oft die Bedeutung eines guten Objektes, oder besser gesagt, eines Selbstobjektes, mit dem sich der schöpferische Mensch (als mit einem Teil von sich selbst) im Kontakt und Austausch befindet. Auch hier stellt sich dem gelungenen Werk gegenüber – zumindest im Moment der Inspiration - das Gefühl glückhafter Einheit und Stimmigkeit ein, die ein Abbild sein mag von jener frühen guten Kommunikation. Der Schaffende findet sich in seinem Werk heil und ganz, wie das Kind im Kontakt mit der es (wider)spiegelnden Mutter (Müller Braunschweig, 1984).

Die Psychoanalyse also führt das rauschhafte Gefühl beim Finden einer neuen Lösung oder einer - das innere Erleben vermittelnden - kreativen Gestaltung zurück auf die Wiederbelebung einer frühen Erfahrung vollkommener Stimmigkeit zwischen Mutter und Kind.

So kann auch der alte Lyriker Wilhelm Lehmann auf die Frage, was er am liebsten in seinem Leben getan habe, antworten: "Mich von der Wirklichkeit des kreatürlichen Daseins überfallen [...] lassen, in den Zustand […] geraten, in dem mir ein Gedicht [...] gelang ..." (Bienek, 1962).
Es ist auch hier die Urerfahrung einer Auflösung von Spannung, eines seligen Einsseins mit dem Dasein. Es ereignet sich das Heile, das Ganze, die glückhafte Einheit, die im schöpferischen Akt immer wieder einen Moment lang spürbar wird.

Soviel zum „Rausch“, bzw. zu dem, was wir hier (etwas salopp pointiert) als „Rausch“ bezeichnen. Es ist keine Ekstase, wohl aber ein intensives Glücksgefühl, das einen Menschen über die normale Gefühlslage weit hinausheben kann.
 
Der rauschhafte Moment aber reicht in der Regel nicht aus, um ein Werk Realität werden zu lassen. 
Der neue Einfall, die neue Ordnung, die den inkohärenten Zustand beendet hat, muss nun aufgegriffen, gestaltet und ausgearbeitet werden. Und das kann mühevoll sein. Hier sind Eigenschaften erforderlich wie Selbstdisziplin, Konzentration, Durchhaltevermögen, Widerstandsfähigkeit.
Zwar vermag das rauschhafte Gefühl, das die Inspiration begleitet hatte, eine hohe Motivation, ja Leidenschaft, in Gang zu bringen. Aber im Detail sind jetzt andere Fähigkeiten gefragt, die viel mit Genauigkeit, ordnender Gestaltungskraft, aber auch mit Frustrations- und Kränkungstoleranz zu tun haben.

Dazu gleich mehr. Aber die Disziplin, die erforderlich ist, um ein wie immer geartetes Werk zustande zu bringen, fängt eigentlich schon da an, wo im Vorfeld (vielleicht schon in früher Jugend) Wissen, handwerkliches Können, Fertigkeiten erworben werden. „Es gibt keine Intuition ohne verfügbares Wissen. Der kreative Funke kann nur das Vorhandene entzünden“ (Holm-Hadulla, 2011). Und auch die Gestaltung des Erlebten setzt ein Können voraus, das jemand sich oft genug unter großer Disziplin und Ausdauer erworben hat. Denken Sie nur an die Perfektionierungsvorgänge beim Erlernen eines Instruments einschließlich der begleitenden Notenkenntnis, insbesondere natürlich auch der Fähigkeit, musikalische Einfälle notentechnisch exakt notieren zu können.

Schon Hegel betont, dass Talent und Genius – zweifellos Voraussetzungen des Schöpferischen - doch der praktischen Übung und der geduldigen Ausgestaltung bedürfen. Zu einer Fertigkeit hierin, sagt er, verhelfe keine Begeisterung, sondern nur Reflexion, Fleiß und Übung (Hegel, Bd 13, S. 46 f., zitiert nach Holm-Hadulla, 2011).

Wie eingangs schon an einigen Beispielen deutlich wurde, sind es oft gerade die erfolgreich Schöpferischen, die dem Klischee vom chaotischen Künstler zumindest in Bereichen ihrer Arbeit am Werk keineswegs entsprechen. (Sie mögen in anderen Persönlichkeitsbereichen chaotisch sein, in der Gestaltung und Verfolgung ihrer Arbeit sind sie es oft gerade nicht.)

Sie sind nicht nur in der Lage, die neue Ordnung, die neue Idee, die neuartige Lösung auszubrüten. Sie sind auch fähig, diese als neu zu erkennen und aufzugreifen. Dazu aber, sagt Holm-Hadulla (2011), seien „Achtsamkeit und Disziplin vonnöten“. Auch bedürfe es einer Persönlichkeit, die genügend ausgebildet, strukturiert und selbstsicher sei, um das neu Gesehene ins Werk zu setzen.

Neben Leidenschaft, Neugier und Originalität sei jetzt die Widerstandsfähigkeit gefragt, um den meist langsamen Fortschritt der Arbeit und damit eventuell einhergehende Enttäuschungen ertragen zu können. Das Festhalten der neuen Idee und ihre mühsame Darstellung oder Gestaltung in der Realisierungs- oder Ausarbeitungsphase erfordern Geduld und Durchhaltefähigkeit. Denken Sie z. B. an das oben angeführte Beispiel von Marie-Luise Kaschnitz. Sie spricht von einer Konzentration, von einem „Ich-lasse-dich-nicht“, d. h. von der Kraft, „bei der Sache zu bleiben, bis man die Genauigkeit erreicht hat“.

Zur Disziplin gehört sicher auch, dass der Kreative bereit und fähig sein muss, das entstehende Werk selbst kritisch zu überprüfen – und von anderen prüfen und beurteilen zu lassen. Dieser Prozess, so Holm-Hadulla, wird meist von Enttäuschungen und Kränkungen, sowie berechtigter und unberechtigter Kritik begleitet. „Wie Kreative damit umgehen“, ob sie durch das Urteil der Freunde, Mentoren und der Öffentlichkeit angespornt oder gelähmt werden, „ist weniger eine Frage des Talents als vielmehr ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebenssituation.“
Denken Sie an den Schriftsteller Martin Walser. Er wurde von Marcel Reich-Ranicki erst gelobt, dann so abgrundtief niedergemacht, dass er nah daran war, zu verzweifeln und das Schreiben aufzugeben. Aber er tat es nicht, es war ihm eine zu wichtige, zu unentbehrliche Lebensäußerung – und er schrieb im Anschluss an diesen angeblichen Flop seinen Bestseller „Das Fliehende Pferd“.

In jeder Phase des kreativen Prozesses also treffen wir auf das Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Schöpfung und Zerstörung (Holm-Hadulla, 2011). Zerstörung und Chaos scheinen wichtig zu sein, damit etwas Neues entstehen kann. Das rauschhafte Erleben aber entspringt der Überwindung des Chaos. Es signalisiert eine neue Ordnung und die darin wiedererlangte Kohärenz. Sein glückhaftes Moment wieder gewonnener Einheit und Ganzheit hat Anklänge an die frühe, spiegelnde Kommunikation zwischen Mutter und Kind.
Doch obgleich das Chaos in der Illuminationsphase, d.h. während der Inspiration,  plötzlich geordnet zu sein scheint, wird diese neue Ordnung doch in der Phase der Ausarbeitung und Durchführung wieder und wieder durch abweichende Ideen bedroht. Auch die Verifikation, also die Phase, in der das Werk überprüft und beurteilt wird, in der z. B. ein Verlag gefunden werden muss, ist „ein Wechselbad von innerer und äußerer Bestätigung und Strukturierung sowie von Kritik und Labilisierung“ (Holm-Hadulla, 2011).
So erfährt man von manchen Literaten, dass ein späterer Erfolgsroman zunächst von vielen Verlagen zurückgewiesen wurde. Der Lyriker Ernst Jandl z. B. soll jahrelang von Verlag zu Verlag getingelt sein, bevor er einen fand, der seine experimentelle Lyrik herauszugeben bereit war. (Er besuchte unter anderem Suhrkamp und Luchterhand, wo er jedoch Ablehnungen erhielt. Erst später, auf dem Umweg über einen Schweizer Verlag (Walter Verlag), schaffte er es schließlich (über einen Eklat), von Luchterhand verlegt zu werden.) 

Wesentlich für den Schaffenden ist es also letztlich, diesen Wechsel zwischen Disziplin und spielerischem Verhalten, Anspannung und Entspannung, Kohärenz und Inkohärenz, Struktur und Flexibilität ertragen und gestalten zu können.

Wenn wir uns abschließend noch einmal fragen, welche Bedeutung dieses Zusammentreffen  anscheinend so unvereinbarer Züge für den kreativen Prozess hat, - dieser labilisierende Umgang mit dem Chaos einerseits, aus dessen Überwindung schließlich der motivationsstiftende  „Rausch“ hervorgeht, und andererseits die Selbstdisziplin und Strukturiertheit der Persönlichkeit, - so ergibt sich daraus eine einzige Antwort: Es muss beides zusammenkommen, damit kreative Impulse und Einfälle auch in die Realität umgesetzt werden – es muss beides zusammenwirken, damit ein Werk entstehen kann.
  

*



Literatur


Bienek, Horst (1962): Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Carl Hanser Verlag, München.
Holm-Hadulla, Rainer M. (2011): Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung.
       Vandenhoeck & Rubrecht, Göttingen.
Müller-Braunschweig, H.(1984): Unbewusster Prozess und Objektivierung. Freiburger
      Literaturpsychologische Gespräche 3. Peter Lang, Frankfurt/M..
Müller Braunschweig, H. (1977): Aspekte einer psychoanalytischen
                      Kreativitätstheorie. Psyche 31, 1977,821 843.
Seithe, A. (1996):  Kreativität als Ressource. Imagination 4/1996.
Seithe, A. (1997): Die Rolle der Imagination im Rahmen kreativer Prozesse.  In:
                      Imagination in der Psychotherapie. Hg.: L. Kottje-Birnbacher, U.
                      Sachsse, E. Wilke. Verlag Hans Huber, Bern; Göttingen; Toronto;
                      Seattle.
Seithe, A. (2000): Die Rolle des Bildes bei der verbalen Kommunikation von Gefühlen. In:
     Salvisberg, H., Stigler, M., Maxeiner, V. (Hrsg.): Erfahrung träumend zur Sprache
     bringen. Huber, Bern.


veröffentlicht:  Imagination 1/2016

 

 

 

                             Wort, Gefühl und Imagination. Wenn Sprache Gefühle erzeugt

                                                            Angelica Seithe-Blümer


  ‚Wenn Sprache Gefühle erzeugt’, so heißt der Untertitel meines Vortrags. Er impliziert, dass Sprache das kann. Gemeint ist natürlich, dass Sprache diejenigen Gefühle im Adressaten freisetzt, die denjenigen des Sprechenden oder Schreibenden entsprechen. Es geht also um die Übermittlung eines bestimmten Gefühls von einem Individuum zum andern. Es geht nicht um das pure Erzeugen irgendwelcher Gefühle mithilfe sprachlicher Information. Es geht um die Kommunikation eines Gefühls, das der Sprechende selbst hat und das er, indem er es in Sprache fasst, dem anderen quasi „life“ übermittelt.    
   Aber auch bei dieser Kommunikation geht es nicht darum, den anderen von einem Gefühl zu informieren. Wenn ich ihm z. B. sage, ‚ich bin glücklich’, weiß er es rational. Aber er fühlt es nicht zwangsläufig. Wenn er es bei einer so rationalen sprachlichen Übermittlung dennoch fühlt, wirklich fühlt, dann liegt es an etwas anderem. Das teilnehmende Gefühl könnte sich über das Strahlen meiner Augen vermittelt haben. Der Klang meiner Stimme, ihre Färbung, ihr Tempo, ihr Rhythmus könnten es im anderen hervorgerufen haben. Oder der andere nimmt meine Mimik, meine Gesten, meine Körperhaltung wahr. Und wenn er empathisch ist, könnte all das ein mitschwingendes Glücksgefühl in ihm auslösen. – Aber das wäre dann nicht etwas, das von der Sprache selbst in Gang gesetzt würde, sondern von außersprachlichen, in der Regel körperlichen Begleiterscheinungen unseres Sprechens.

  Aber die Sprache kann es auch selbst, d. h. sie vermag es als Sprache. Sie kann das Gefühl, das der Sender hat, in einem Empfänger auf unmittelbare Weise hervorrufen, nämlich als gefühltes Gefühl. Als dessen eigenes, gefühltes Gefühl. Andere Medien, die Musik z.B. oder die bildende Kunst, können den emotionalen Input des Künstlers leichter und ziemlich unmittelbar an den Adressaten weitergeben -, immer vorausgesetzt, der Empfänger, der Hörende oder Schauende, ist offen dafür. Die Sprache hingegen ist zunächst nur ein  rationales Kommunikationsmittel. Und dieses besteht aus einer ganzen Reihe von Zeichen, auf die sich Menschen geeinigt haben, um Wissen und Informationen miteinander zu teilen. Das Gefühl, das in diesem Kontext übermittelt wird, bleibt eine kognitive Botschaft. Das Wort ‚glücklich’, um bei unserem Beispiel zu bleiben, ist ein verbales Zeichen für einen bestimmten Gemütszustand. Es lässt noch kein Gefühl in uns entstehen; vielleicht die kognitive Vorstellung von einem Gefühlszustand. Aber es setzt als solches kein originär emotionales Geschehen in uns frei. Es mag mit erlebten Gefühlen assoziativ verknüpft sein, aber es transportiert doch zunächst nur eine verstandesmäßige Information.
 
   Wie aber schafft es die Sprache, das luftige Gewebe eines gefühlten Erlebens so einzufangen, dass es im anderen als ein Gefühl wieder aufsteigt?

Lassen Sie mich hier zunächst ein Beispiel einflechten (Seithe 2000).
Um den Unterschied zwischen einer gefühlsnahen und einer informativen Sprache zu verdeutlichen, gebe ich Ihnen zuerst die rationale Version einer von einem Gedicht ausgedrückten Botschaft wieder, dann das Gedicht selbst. Entscheiden sie, welche der beiden Varianten ein Gefühl in Ihnen auslöst.  
Hier die rationale Version:

Beim Haarewaschen auf dem Land überkam mich ein Glücksgefühl mit Anklängen von Vertrautheit und Geborgenheit.

Fühlen Sie etwas? – Jetzt das Gedicht von Sarah Kirsch (Kirsch 1979):

Beim Haarewaschen auf dem Land

Mit rotem Handtuch raus in die Sonne.
Warme Wolkenschatten auf Steinen
Akazienblättern.
Ich sehe durch den Kamm in das Licht –
Alles vertraut.

   Unvergleichlich mehr Fülle und Sinnlichkeit! Hier wird gesagt, was sie sieht und auf der Haut spürt. Die Farbe Rot, Sonnenlicht, Wärme, die schöne Lichtbrechung im Kamm und die gefühlsnahe Feststellung ‚Alles vertraut’ lösen das Glückgefühl unmittelbar in uns aus  – vorausgesetzt natürlich, wir sind bereit und fähig dazu. Wir fühlen es in uns selbst. Es entsteht in uns als Gefühl und verknüpft sich dabei mit unseren eigenen Erinnerungsspuren von Glück.
    
   Sprachlich gibt das Gedicht ein visuelles Bild, eine sinnlich erlebt Szene wieder. Darüber hinaus finden sich nonverbale Qualitäten, wie z. B. die Tönung der Vokale und die Konsonantenanklänge in ‚Warme Wolkenschatten’, also akustisch musikalische Elemente der Sprache. Sie lassen das auszudrückende Gefühl von Glück und Geborgenheit lebendig werden. Die Struktur der Sätze folgt der Wahrnehmung. Rationale Verknüpfungen entfallen. Und was in uns entsteht, ist ein starkes Gefühl, eine gefühlsnahe Stimmung, ohne dass diese sprachlich direkt benannt worden wäre.  

   Wie also schafft es die Sprache, hatten wir uns eingangs gefragt, ein gefühltes Erleben so einzufangen, dass es im anderen, nämlich dem Empfänger, als dessen eigenes Gefühl lebendig wird?

   Der Sender, der Schreibende oder Sprechende, wenn er selbst ein Gefühl erlebt, implantiert  etwas in seine Sprache, meist völlig unbewusst, das über das rationale Zeichen hinausgeht. Es mag Teil der oben erwähnten Körpersprache sein, die hier aber ganz in den Sprachduktus einfließt. Es ist nicht mehr eine Gestik oder Mimik des Körpers, sondern ein dynamisches und klangliches Merkmal, das der Sprache selber anhaftet. Die Sprache selbst, also auch die schriftlich niedergelegte Sprache, speichert diese Qualitäten. Da gibt es, wie am Beispiel oben schon hervorgehoben, den Rhythmus, der sich aus den Hebungen und Senkungen der Worte im Satzgefüge ergibt. Da ist die Klangfarbe bestimmter Vokale. Diese können eine nahezu musikalische Qualität annehmen, je nachdem, ob sie eine tiefe oder hohe, kurze oder lange Intonation beinhalten. Auch die Härte oder Weichheit spielt eine Rolle, besonders bei den Konsonanten. Ich behaupte, dass solche Merkmale Ausdrucksmittel sind, die ganz automatisch in die Sprache einfließen, wenn wir unter dem Einfluss starker Gefühle stehen – und das nicht nur beim Dichter. Es ist quasi eine Art körperliche Begleiterscheinung unserer rationalen Sprache, eine Begleiterscheinung aber, die nicht dem Körper (oder nicht nur dem Körper), sondern der Sprache selbst zukommt. Es sind freilich diejenigen Qualitäten, die schon Freud beschäftigt haben, wenn er darüber nachgedacht hat, wie Dichter die Schranken überwinden, die sich zwischen jedem Ich und dem andern erheben. Er nannte diese Fähigkeit ‚ars poetica’ (Freud 1908) und wies darauf hin, dass es dabei um eine Umformung des Erlebten unter Verwendung ‚averbaler’ Qualitäten gehe. Nur – und das behaupte ich -, dass diese averbalen Qualitäten die Versprachlichung eines Gefühls meist eher intuitiv oder automatisch begleiten, auch beim Dichter. Er wird sie in den seltensten Fällen bewusst herstellen. In jedem Fall aber wirkt hier eine außersprachliche, dem Gefühl nachgebildete Qualität auf die Sprache ein und verwandelt sie.
   
   Das ist aber noch nicht alles, was Sprache kann, wenn es darum geht, ein emotional getöntes Erleben über die Worte direkt zum Adressaten zu transportieren. Der zweite entscheidende Weg geht über das Bild, über das Bild, das von der rationalen Sprache mit ihren semantischen Möglichkeiten gezeichnet und nachgebildet ist. Es ist eine in Sprache gefasste, bildliche Vorstellung, ein Sprachbild. Es ist eine Ab-bildung der Realität, nicht ihre rationale Bezeichnung. Eine menschliche oder zwischenmenschliche Szene kann es ebenso sein, wie ein Bild aus der Natur oder dem Alltag. Es muss aber konkret sein, sinnlich und emotional nachvollziehbar. ‚Warme Wolkenschatten … Ich sehe durch den Kamm in das Licht …’. Ein solches Bild, das eng mit dem auszudrückenden Gefühl verknüpft ist, findet der Schreibende, wenn er seinem Gefühl Raum gibt, ebenfalls intuitiv. Das in ihm auftauchende Bild ist dann eine Art automatischer Ergänzung seines emotionalen Erlebens, eine unmittelbare Umsetzung des Gefühls. Und nun beginnt die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger.
      
   Der Schreibende findet in sich ein Bild, das er unter dem Einfluss eines bestimmten Gefühls direkt sinnlich erfahren oder aus dem Erinnerungspotential seines Unbewussten geschöpft hat. Das Bild entspringt dabei seinem aktuellen Gefühl. Es ist in gewisser Weise mit seinem emotionalen Zustand identisch, bzw. entspricht diesem.
   In dieser bildhaften Vorstellung, die er sprachlich gestaltet, speichert der Dichter gewissermaßen sein Gefühl ab. Der Leser nimmt dieses Bild in sich auf, und es entsteht in ihm nun seinerseits ein Gefühl. Es ist dem Gefühl, das der Schreibende vermittelt hatte, sehr ähnlich. Zugleich ist es aber - durch die Erfahrung des Lesers mit den im Bild ausgedrückten Inhalten -  auch etwas Originäres. Es ist im Innenleben des Lesers neu belebt worden und aus dem Kontext seiner eigenen Assoziationen quasi als etwas Neues hervorgegangen (Seithe 1994, 1997a, 2000). Die dichterische Sprache bedient sich also des Bildes, um emotionale Erlebnisse im anderen so auftauchen zu lassen, als wären sie im andern entstanden.

   Nun drängt sich natürlich die Frage auf: Wie kommt es, dass ein Bild, ein visueller Eindruck und andere sinnliche Qualitäten so leicht ein Gefühl in uns auslösen? Woran liegt es, dass Rhythmus und Klangfarbe ein emotionales Erleben so viel eher transportieren, als es rational orientierte Wortgefüge tun?

   Es gibt in der Tat eine enge Verbindung sinnlicher Eindrücke mit Affekten. Diese Verbindung beruht auf der ganzheitlichen Erlebnisweise, wie sie in frühen Entwicklungsstufen des Lebens vorherrscht. Am Beginn unseres Lebens werden nämlich sensomotorische und kinästhetische Eindrücke, aber auch andere, z. B. visuelle oder akustische Sinnesqualitäten noch nicht abgegrenzt von den Gefühlen wahrgenommen. Es geht dabei um ein ganzheitliches Erleben dieser Wahrnehmungen, das in präverbaler Zeit vorherrscht und später weiter fortbesteht (Müller-Braunschweig 1997). Noch im Erwachsenenalter erleben wir deshalb eine verstärkte Assoziationsbereitschaft zwischen Gefühl und akustischen oder olfaktorischen Reizen. Aber auch für die visuellen Muster, wie etwa für das in der Sprache nachgezeichnete Bild, ist der ursprünglich ganzheitliche Nährboden von Gefühl und sinnlicher Wahrnehmung später noch überaus wirksam. So erklärt sich, dass nicht nur die sinnlich unmittelbaren Qualitäten der Sprache (Rhythmus, Klangfarbe etc.), sondern auch das Sprachbild prädestiniert ist, Emotionen in uns auszulösen. Indem die Sprache einen visuellen Vorgang, mitunter auch einen haptischen, akustischen oder sensomotorischen, immer aber einen sinnlich erlebten, nachzeichnet, liefert sie zugleich das auslösende Reizmuster für ein Gefühl. Das schafft sie mit den semantischen Mitteln einer zunächst auf kognitive Verständigung ausgelegten Sprachkonvention.

   Wir haben nun geklärt, wie das Wort, bzw. die Sprache ein Gefühl quasi speichern und als gefühltes Gefühl (nicht nur als kognitiven Inhalt) an ein anderes Individuum weitergeben kann. Lassen Sie uns nun fragen, was das für die Psychotherapie bedeutet.
 
   Die Psychotherapie vollzieht sich überwiegend im kommunikativen Medium der Sprache. Ein Gespräch oder zumindest eine sprachliche Interaktion bilden in der Regel die Basis der Verständigung. Der Patient spricht über seine leidvollen Erfahrungen, der Therapeut vermittelt sein Verstehen und führt den Patienten durch verbale Interventionen auf einen Weg, der hilfreich ist.
 
   Im Zentrum dieser Gespräche aber stehen Erlebnisse, denen Gefühle anhaften, auch wenn der Patient sie noch nicht spüren oder aussprechen kann. Um diese Gefühle geht es, wenn Veränderungsprozesse angeregt werden sollen. Diese Gefühle müssen sich entfalten. Sie müssen wieder belebt, durchlebt, erkannt und verstanden werden. Wir können nun fragen, welche Mittel nutzt die Psychotherapie, um emotionale Prozesse zu fördern?
 
   Eine kognitive Sprache im therapeutischen Gespräch stößt kognitive Prozesse an und wäre langfristig kontraproduktiv. Denn verstandesmäßige Einsichten sind kaum in der Lage, tiefgreifende Veränderungen im Patienten zu bewirken.
Gelingt dem Therapeuten jedoch eine emotionale Sprache, ist er in der Lage, Gefühle anzusprechen, gefühlsmäßiges Erleben im Patienten wachzurufen und selbst einfühlsam zu begleiten, kann womöglich etwas bewegt werden. Denn das Gefühl ist der Schmelztiegel, in dem sich alte pathogene und verhärtete Muster auflösen können.

   Die Psychoanalyse wusste das von jeher, wenn sie die Übertragung zum Vehikel der therapeutischen Prozesse gemacht hat. In der Übertragung leben Gefühle auf, und zwar die für die Entwicklung der Neurose entscheidenden und frühen.
   Für alle psychotherapeutischen Ansätze aber wird gelten, dass es hilfreich für den Patienten ist, sich emotional verstanden zu fühlen - und dass es heilsam ist, wieder zu fühlen, sich wieder lebendig zu fühlen -, auch wenn es vorübergehend schmerzhaft ist.

   Wie gelingt es dann dem Therapeuten, eine emotionale Sprache zu entwickeln? Wie gelingt es ihm, bei seinem Patienten Gefühle zu fördern?

   Eine echte innere Anteilnahme drückt sich körperlich, mimisch und nicht zuletzt auch sprachlich unmittelbar aus. Vielleicht neigt er sich vor, seine Gesichtzüge spiegeln den Affekt, in den er sich empathisch einfühlt, und in seiner Stimme schwingt mit, was er Anteil nehmend gerade fühlt. Seine Sprache ist also, der emotionalen Situation entsprechend, weich, liebevoll, aufmunternd oder auch energisch Halt gebend. Sie wird, neben anderen körperlichen Hinweisen, gerade durch ihre averbalen Qualitäten die emotionale Beteiligung am Erleben des Patienten ausdrücken. Der Patient spürt, dass der Therapeut mitfühlt und erlebt sich ‚gespiegelt’, d. h. nichts anderes als verstanden. Sich verstanden zu fühlen, bedeutet auf eine sehr basale Weise, nicht einsam zu sein, nicht alleine - mit diesem Problem und überhaupt als Mensch. Das tröstet und hilft. Es setzt Ich-Kräfte frei, die sogar helfen können, das Problem hernach alleine zu meistern.

   Aber die Sprache des Therapeuten vermag noch mehr. Sie kann das Verstehen einer emotionalen Situation in ein Bild kleiden: „Sie sehnen sich wie ein Kind nach der Hand der Mutter.“ „Du fühlst dich wie in einem Gefängnis.“ „Ich habe das Empfinden, als stünde da zwischen uns eine Wand aus Glas, die Ihnen aber im Augenblick einen wichtigen Schutz gibt.“
Das Bild, dessen sich die Sprache bedient, erreicht das Gefühl um Vieles direkter, als würde das gefühlsmäßig Verstandene in kognitiver Sprache ausgedrückt. Etwas so: „Sie suchen Halt und Geborgenheit.“ „Du fühlst dich nicht frei in deinem Verhalten.“ „Sie brauchen eine schützende Distanz.“ Das Maß, in dem sich der Patient über ein angebotenes Sprachbild verstanden fühlt, dürfte deutlich größer sein, als bei kognitiver Rückmeldung. Das Bild bewegt vermutlich auch in der Dynamik des therapeutischen Geschehens mehr. Es ist eindrücklicher, bleibt anders haften, rührt mehr im Patienten auf. Es führt auch leichter zur Akzeptanz der eigenen Gefühle und dazu, sich ihnen zu stellen -, um sie letztlich zu begreifen.

   Andererseits erleichtert ein in Sprache gekleidetes Bild auch das Verstehen des Therapeuten. Einmal vermittelte eine Patientin im Vorgespräch einer Therapie ihre Situation folgendermaßen: „Ich liege in einer Wüste aus Eis.“ Ich war sofort ‚im Bilde’. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung, um gefühlsmäßig zu erfassen, wie es ihr ging (Seithe 1997a, 2000).

   Die KIP bietet ein hervorragendes Medium für den Patienten, sich im Bild emotional verständlich zu machen und selbst zu verstehen. Das Bild fördert auf breiter Basis den Zugang zum Gefühl.
Die wechselseitige Verbindung zwischen Bild und Gefühl, diese alte Verbindung aus präverbaler Zeit, ermöglicht einerseits, dass ein starkes Gefühl relativ leicht ein Bild in uns aufruft, erst recht im entspannten Zustand des therapeutischen Imaginierens. Andererseits kann ein imaginiertes Bild starke Gefühle auslösen. Bilder von denen wir berührt oder angerührt sind, haben oft eine starke und heilsame Wirkung. Schwierige Gefühle können unter dem Schutz des Therapeuten ausgehalten und abreagiert werden. Andererseits bekommen die eigenen Gefühle durch das Anschauen und Beschreiben des Bildes (Aktivierung von Ich-Funktionen) eine sich konkretisierende und damit fassbare Gestalt. Man kann ihnen entgegentreten, sie quasi von außen anschauen. Sie werden durch einen Prozess der Objektivierung zu etwas Erkennbarem, das nun auch kognitiv erkannt und in seiner Bedeutung erfasst werden kann. So kommen die Patienten über die Konfrontation mit ihren eigenen Imaginationen oft ganz von selbst zu wichtigen, aussprechbaren Deutungen ihrer Bilder (Leuner 1994) -, vor allem aber auch zu einem Wieder-Annehmen und Integrieren der vorher abgewehrten Gefühle.

   Die Nähe zum Gefühl ist, wie wir wissen, beim „Bilderleben“ der Katathym-Imaginativen Psychotherapie einer der zentralen Wirkfaktoren. Die therapeutische Anregung, zu einem sprachlich angebotenen Bildmotiv zu imaginieren, setzt bei dieser Methode Bilder in Gang, und Bilder haben die Tendenz, Gefühle in uns auszulösen.  
Gefühle aber sind das zentrale Agens der Psychotherapie. So verbinden sich auch hier - wie in der Dichtung - Wort, Gefühl und Imagination auf wunderbare Weise und werden wirksam.  



Literatur


Freud, S. (1908):  Der Dichter und das Phantasieren. GW VII.

Kirsch, S. (1971):  Rückenwind. Gedichte. Ebenhausen: Langewiesche-Brandt

Leuner, H. (1994):  Lehrbuch der Katathym-imaginativen Psychotherapie. Bern: Huber. 3. Aufl.,  

Müller-Braunschweig, H. ( 1997):  Zur gegenwärtigen Situation der körperbezogenen
Psychotherapie. Psychotherapeut 42: 132–144.

Seithe, A. (1994):  Schöpferische Imagination und sprachliche Gestaltung. Imagination, 4

Seithe, A. (1997a):  Sprachbilder als Motiv in der Katathym-imaginativen Psychotherapie. In:
Kottje-Birnbacher, L. , Sachsse U., Wilke, E.: Die Imagination in der Psychotherapie. Bern: Huber

Seithe, A. (2000):  Die Rolle des Bildes bei der verbalen Kommunikation von Gefühlen. In:
Salvisberg, H., Stigler M., Maxeiner, V.: Erfahrung träumend zur Sprache bringen. Bern: Huber  




Zusammenfassung:


Das luftige Gewebe eines gefühlten Erlebens mit der Sprache so einfangen, dass es im anderen als ein Gefühl wieder aufsteigt …. Möglich wird dies, wenn die Sprache jenseits ihrer Begrifflichkeit Bilder ‚malt’ und Szenen schildert. Und wenn sie außerdem von ihren averbalen Mitteln Gebrauch macht, wie Klangfarbe, Rhythmus u. a. m..
Es wird erläutert, wie diese speziellen Möglichkeiten der Sprache genutzt werden können, welchen Vorteil sie bieten, etwa im Rahmen der Kunst -, und welchen Einfluss sie allgemein für die Psychotherapie bereithalten. Auch die ganz besondere Wirkungsweise der imaginativen Psychotherapiemethode (KIP) wird in diesem Zusammenhang beleuchtet.    


Schlüsselwörter:

Sprache, Gefühl, Kunst, KIP




Autorin:

Angelica Seithe-Blümer  
Dipl.-Psych., psychologische Psychotherapeutin, eigene Praxis, Dozentin der AGKB; Autorin von Lyrik und Kurzprosa.  
Burgstraße 36
D-35435 Wettenberg (bei Gießen)
 

 

Vortrag beim internationalen Kongress der AGKB/DGKIP in Köln 2018 

veröffentlicht:  Imagination 3-4 / 2018 

 


 
In Begleitung des inneren Therapeuten - Erfahrungen mit dem Eigen-KB

Angelica Seithe-Blümer


Ein Eigen-KB, ein KB mit sich selbst, begleitet nur vom inneren Therapeuten - zweifellos eine Erweiterung des Möglichkeitsraumes –, aber ist das erlaubt? Ich erinnere mich, dass Leuner davon abriet. Man solle das KB nicht ohne therapeutische Begleitung durchführen, es könne sonst gefährlich werden. Seine Sorge galt vermutlich einer möglichen Überschwemmung mit malignen Bildern und Affekten, aus der sich eine bestimmte Patientenpersönlichkeit ohne Hilfe eines begleitenden Therapeuten vielleicht nur schwer befreien kann.

   Für mich hingegen war das Eigen-KB, das Imaginieren im Alleingang, immer wieder eine nützliche und nicht selten sehr fruchtbare Erfahrung. Ich war mit den Regeln und Techniken therapeutischer Führung im KB vertraut. Es galt nämlich nicht nur, die bekannten Bildmotive Wiese, Bach, Berg usw. bis hin zum Sumpfloch als Anregung eines Tagtraums zu nutzen. Es ging auch nicht nur darum, etwa mit der ‚Erweckung des Nachttraums’ zu arbeiten oder ein am akuten Gefühl sich frei entfaltendes KB in Gang zu bringen -, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Wichtig war die Verinnerlichung einer therapeutischen Führung, die darauf abzielte, den Imaginierenden anzuhalten, genau hinzuschauen, genau zu beschreiben, standzuhalten, auch unangenehme Bilder auszuhalten, sich vorsichtig zu nähern, Tastempfindungen zuzulassen und nicht zuletzt die Techniken der Symbolkonfrontation gut zu kennen. Das reichte von der Anregung eines Dialogs mit einer Symbolgestalt bis hin zu den Techniken des ‚Nährens und Anreicherns’ oder des ‚Bannens mit dem Blick’. Mit diesen Spielarten therapeutischer Führung und Begleitung gut vertraut, war es mir selbstverständlich, sie auch, soweit es ging, im KB mit mir selber anzuwenden. Dies geschah von Seiten einer inneren Instanz, die mein erlebendes Ich fast durchgehend begleitete. Ich gab mir also selbst die Anweisung: „Schau mal genauer hin!“ „Versuche es, für einen Moment auszuhalten, auch wenn es unangenehm ist!“ „Biete der Gestalt mal ganz, ganz reichlich von dem an, wonach sie ein großes Bedürfnis hat, und beobachte genau, wie sie sich verhält!“ Und Vieles mehr.
Hier nun ein erstes Beispiel.

   Ich hatte akut Kopfweh, was für mich ungewöhnlich war, und es ging über Nacht nicht weg. Als die Kopfschmerzen am zweiten oder dritten Tag nach ihrem Auftreten immer noch bestanden, beschloss ich zu imaginieren. Die problematische Situation, der ich sie vermutlich verdankte, war mir bewusst. Aber das half nichts. Oder doch eben gerade so viel, dass ich überzeugt war, es müsse einen psychischen Ursprung geben.
   Als Ausgangmotiv für die Imagination wählte ich spontan einen Teich. Mir war bewusst, dass der Teich als Traumsymbol etwas mit dem Gefühlsleben zu tun haben würde.
      Unmittelbar nachdem ich die Augen geschlossen hatte, sah ich vor mir einen zugefrorenen Teich. Mitten im Eis war eine Öffnung, die mich anzog. Ich rutschte ohne zu zögern dort hinein - und befand mich tief in einem dunkel grünlich getönten Wasser. Da war kein störendes Temperaturempfinden, kein Gedanke um mangelnde Luft, ich war ich selbst, kein Fisch, ich hatte auch keine technische Ausrüstung dabei. All dies kam mir gar nicht in den Sinn. Stattdessen geriet ich in Kontakt mit einem sehr verschmutzten Wasser. Fäkalien schwammen schwebend überall herum. Es ekelte mich stark. Mein innerer Therapeut aber empfahl, den Ekel auszuhalten, ihm standzuhalten, ja, sogar die schwimmenden Substanzen zu berühren, so weit das möglich war. Ich reagierte den Ekel ab.
   Alsdann kam ich tiefer – gelangte auf den schlammigen Grund des Teiches. Dort war das Wasser weniger verschmutzt. Aber es war unangenehm, den Schlamm an den Füßen zu spüren, Unterwasserpflanzen zu berühren. Ich hielt weiterhin stand und geriet in eine tiefer gelegene Unterwasserhöhle. Dort setzte ich meine tastenden Erkundungen fort. Es war dunkel, aber der Ekel hatte nachgelassen. Es war erträglich, aber nicht angenehm. Ich versuchte genau wahrzunehmen, was ich vor mir hatte. So verging einige Zeit. 
   Plötzlich erschien in der seitlichen Wand dieser Höhle eine mannsgroße, helle Öffnung. Sie ging offensichtlich ins Freie. Ich schwamm hindurch und landete – zu meiner Überraschung – in einem von Licht durchfluteten Swimmingpool. Das Wasser war sauber und klar. Ein Gefühl körperlichen Wohlbefindens durchschwemmte mich. Es war wie eine seelische Aufhellung. Und nachdem ich den Pool der Länge nach schwimmend durchmessen hatte, nahm ich den Tagtraum zurück. Der Kopfschmerz war verschwunden. Er kam nicht zurück.

   Die dynamische Situation, in der das Symptom auftauchte, war, wie oben schon erwähnt, äußerst prägnant und stand mir klar vor Augen (Liebe, Eifersucht, Trennung, übergangener Schmerz). Es war naheliegend, die Kopfschmerzen damit in Verbindung zu bringen. Ich reflektierte den untergegangenen Affekt, die vermutete Verdrängung, und war der Überzeugung, mir den Hintergrund meines Erlebens zutreffend bewusst gemacht zu haben. Aber es half nicht. Die Kopfschmerzen blieben unverändert. Sie erwiesen sich als hartnäckig und schickten sich an, dauerhaft zu werden.
   Ein Wissen um die Auslösesituation und das Nachdenken über untergegangene Affekte konnten das Symptom nicht auflösen. Erst die geschilderte Imagination vom Tauchen - wichtig war dabei das Aushalten des Ekels - brachte die Lösung und ließ das Symptom dauerhaft verschwinden. Ein weiterer Tagtraum war nicht erforderlich. Ein Ersatzsymptom trat nicht auf.

   Das hervorstechende Merkmal im Beispiel dieser Selbstimagination ist m. E. die innerlich begleitende Instanz. Da gibt es offensichtlich ein therapeutisches Introjekt. Ich hatte nie die Phantasie, ein bestimmter, vielleicht vertrauter Mensch würde mich begleiten. Immer war ich selbst diejenige, die mir die therapeutische Anweisung gab.
   Sie kennen das Modell einer Tauchexpedition früherer Zeiten, mit dem Leuner die Kommunikation zwischen erlebendem Patienten und begleitendem Therapeuten veranschaulicht (Leuner 1994, S. 206). Ein Taucher, hier der Patient, erforscht den Meeresgrund; gemeint sind die eigenen unbewussten Bereiche. Dabei bleibt er in engster vitaler Beziehung und engem Kontakt zum Expeditionsleiter im Boot, dem Therapeuten. Expeditionsleiter und Taucher arbeiten an einer gemeinsamen Aufgabe. Der Taucher-Patient bekommt Rat und Hilfen vom Expeditionsleiter. Seine eigene Aktivität ist zweigeteilt. Einerseits beobachtet und erlebt er, andererseits berichtet er über das, was er wahrnimmt. Sein Ich unterliegt also einer gewissen Spaltung in einen passiven und einen aktiven Ich-Anteil.  Man spricht von einer sog. therapeutischen Ich-Spaltung, die übrigens in jeder therapeutischen Beziehung die Rolle des Patienten-Ich mehr oder weniger kennzeichnet. Der Patient arbeitet auf zwei psychischen Ebenen. Sein regressives Ich gibt sich dem Erleben hin, während ein anderer, aktiverer Teil dem Therapeuten über sein Erleben Bericht erstattet, worauf wiederum letzterer mit Rat und Hilfe reagiert, d. h. Vorschläge macht, die in Richtung Heilung wirksam werden können.
   In unserem Beispiel vom KB in Begleitung des inneren Therapeuten wird dem Bildernden auch die Rolle des Expeditionsleiters mit abverlangt. Dieser innere Therapeut gibt Anregungen, hält bei der Stange, fordert auf, genauer hinzuschauen, ermutigt zum Standhalten und zum Aushalten unangenehmer Wahrnehmungen und Gefühle. Er kennt auch die therapeutisch progressiven Schritte, die er seinem eigenen Patienten-Ich anträgt. Es ist also streng genommen nicht bloß die übliche Ich-Spaltung im Spiel. Das Ich befindet sich in einer weit komplexeren Ich-Aufspaltung. Da gibt es einerseits das passiv erlebende und andererseits das innerlich aktiv wahrnehmende Ich, und nun beteiligt sich auch noch das aktiv begleitende, das führende Ich an der Situation.

    Lassen sie mich jetzt ein weiteres Beispiel anführen, das einen ganz anderen Charakter hat und dementsprechend auch einen differenten Umgang mit sich selbst erfordert.
   Ich hatte Ende der 80er plötzlich einen pathologisch erhöhten Blutdruck. Beim Radfahren auf dem Ergometer brach der Internist die Untersuchung jedes Mal schon bei ‚leichten Spaziergängen’ ab, weil der systolische Blutdruck dabei bereits auf über 200 mm Hg anstieg. Ich war mein Leben lang durch einen eher niedrigen Blutdruck aufgefallen.
   Statt Betablocker zu schlucken, entschloss ich mich – durchaus unter dem Einfluss einer gewissen Todesangst – zu imaginieren. Ich wusste um die oft heilsame Wirkung von Imaginationen, bei denen man sich auf angenehme Weise im Wasser bewegt; scherzhaft mitunter als ‚katathyme Hydrotherapie’ bezeichnet. (Pszywyj 1983, S. 216)
   Ich versuchte mich dreimal am Tag tief zu entspannen und mir einen freundlichen See vorzustellen, um darin zu schwimmen. Beim ersten Imaginieren kam spontan eine Szene in Gang, die ich in den folgenden vierzehn Tagen immer wieder durchlebte.
   Ich schiebe mein aufblasbares Schlauchboot, ein Kajak, durchs hohe Schilf. Vor mir liegt ein weit sich öffnender See im Sonnenglanz. Ich wate ein Stück weit in den See hinaus. Dort schwimme ich in Reichweite des Bootes. Ich spüre das Wasser um mich herum, ich spüre, wie es meinen Körper umspült, spüre, wie es mich auf eine beglückende Weise trägt. Das körperliche Gefühl, im Wasser zu sein, mich im Wasser zu bewegen, ist überraschend real, das Schwebegefühl körperlich sehr intensiv, fast überirdisch schön. Ich umkreise mein Boot. Später lege ich mich mit dem Bauch quer über die weiche Bootswand, auch sie trägt. Der See ist weit und glitzernd. Ich ruhe aus. Dann schiebe ich mein Boot langsam zurück zum Ufer und beende den Tagtraum.

     Hier war der innere Therapeut weniger gefordert als im vorangegangenen Beispiel. Es bedurfte keiner Konfrontation mit unangenehmen Gefühlen. Zu erleben, intensiv wahrzunehmen, die guten Körpergefühle zuzulassen und dranzubleiben, das war die therapeutisch heilsame Intervention. Ebenso wie ein guter Therapeut im realen Setting musste auch der innere Therapeut hier ausschließlich den Prozess fördern und anregende Interventionen geben. Die Aufforderung zu bewusstem Wahrnehmen der Körpergefühle, die Ermutigung, sie zuzulassen und die generelle Erlaubnis zu genießen, waren in dieser Tagtraumszene wichtig.
   Nach vierzehn Tagen war mein Blutdruck wieder normal und blieb während der nächsten 30 Jahre ausnahmslos auf diesem eher niedrigen Niveau konstant.

   Ich möchte an dieser Stelle ein kontrastierendes Beispiel kurz skizzieren -, es kann nämlich auch darum gehen, durch aggressive, ja mit realen Maßstäben gemessen, ‚mörderische’ Phantasien ein akutes psychosomatisches Symptom zu beseitigen. Der nach einem frustrierten Nähewunsch in einer Liebesbeziehung etwa auftretende Magenschmerz kann auf der Stelle verschwinden, wenn man sich einer solch ‚aggressiven Kur’ eine kleine Weile zu widmen in der Lage ist. Es muss aber schon hoch hergehen. Mit unnatürlichen Riesenkräften etwa muss dem frustrierenden oder kränkenden Gegenüber der Garaus gemacht werden – wie übrigens auch im Handpuppenspiel der Kindertherapie der Bösewicht immer wieder und aufs Neue zur Strecke gebracht wird. Das Symptom Magenschmerz löst sich dabei verbürgtermaßen auf der Stelle auf, vorausgesetzt es ist psychogen und soeben erst entstanden. Die Einsicht in die dynamischen Zusammenhänge, das sich Bewusstmachen, hilft dabei nur mittelbar. Es legalisiert aber die Affektaktivierung – als psychohygienische Maßnahme.
   Allerdings braucht es hierzu, wie bei Patienten immer wieder deutlich wird, ein relativ stabiles Ich. Ein zwangsneurotischer Jugendlicher etwa schreckte vor solcherart Phantasien zurück. Er glaubte, durch die bloße Phantasie von aggressivem Handeln schuldig zu werden – oder gar die Realität Beeinflussendes tun zu können. Andere Patienten mit borderline-naher Störung fürchteten, solche Phantasien könnten bei ihnen dazu führen, dass sie die Grenzen ihres realen Handelns verlören. Sie waren sich unsicher, glaubten, solche Phantasien könnten leicht in eine Realisierung einmünden oder diese befördern.
   In der Tat gibt es eine Klientel, die von aggressiven Phantasien nicht kathartisch profitiert. Bei ihr besteht im Gegenteil die Gefahr, dass reales Aggressionsverhalten angestoßen, ja geradezu getriggert wird. Da gibt es nicht die heilsame, psychohygienische Entladung, nach deren Erleben sich ein reales aggressives Verhalten von selbst erledigt. Es wird vielmehr eine Tür aufgestoßen, sodass sich die Aggression ungebremst in der Realität entladen kann.
   Hier liegt übrigens die Ursache für die weit verbreitete Kontroverse, was aggressive Videospiele oder entsprechende Filme anbetrifft. Für Ich–schwache Persönlichkeiten bringen sie die Gefahr einer destruktiven Realisierung, während Ich-gefestigte Menschen sich durch sie von störenden aggressiven Affekten befreien können. 

   Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Grundsätzliches zur Ich-Stärke im Zusammenhang mit der Durchführung von Eigen-KBs sagen.
   Ich denke – und da gebe ich Leuner Recht – die Gefahr kann darin bestehen, von starken, unguten Affekten überschwemmt zu werden. Hier hat die Abwehr – so hinderlich sie an anderer Stelle ist – eine psychisch gesunde Funktion. Bei ausreichender Ich-Stärke schläft der Betreffende ein, wenn er sich dem Stoff, dem er sich imaginativ nähern will, nicht gewachsen fühlt. Oder er schweift ab. Oder die Entspannung will nicht gelingen. Das sind Schutzmaßnahmen, derer sich der Ich-stärkere beim Eigenbildern sicher sein kann. Wo dieser Schutz fehlt und jemand evtl. unkontrolliert einer ihn überschwemmenden und überfordernden Bilder- und Emotionsflut ausgeliefert ist, sollte das Eigen-KB unbedingt vermieden werden. Natürlich muss man hier auch die Indikation für das KB überhaupt, also auch für das therapeutisch begleitete KB, in Frage stellen. Aber im Dialog mit dem führenden Therapeuten gibt es immer noch Nuancen, Steuerungs- und Dosierungsmöglichkeiten, Hilfen und letztlich für den Betreffenden auch eine Grundsicherheit im Gehaltensein, die auch dem Ich-geschwächten Patienten den fruchtbaren Einstieg ins KB möglich machen.

   Ein anderes Kapitel ist zweifellos das Probehandeln in einer blockierten oder ängstigenden Realszene. Hier bleibt die Phantasie automatisch näher an der Realität. Aber die Arbeit kann dennoch sehr anstrengend werden.
   Vor Jahren, ich brachte es einfach nicht fertig, aus meiner Ein-Zimmer-Wohnung auszuziehen, imaginierte ich verzweifelt den Versuch, die Treppe im Haus eines Maklers hinaufzusteigen, um ein Wohnungsangebot zu erhalten. Der sich im Hintergrund befindliche Konflikt mit meiner Partnerbeziehung oder mit der Stadt, in der ich lebte, war mir vage bewusst. Vielleicht stimmte meine Annahme sogar. Aber es half nichts. Ich versuchte besagte Treppe zum Makler viele, viele Male hochzugehen, umsonst, ich erreichte sein Büro nicht ein einziges Mal. – Stattdessen baute ich ein Haus, was ich nie zuvor erwogen hatte, und war dabei fast traumwandlerisch handlungsfähig. Immerhin. Eigentlich ein Glücksfall. Auch die Beziehung hielt sich noch eine Weile. Und ich wohne seitdem an der Peripherie jener Stadt, in einer Landschaft, die mir bis heute gefällt.

   Ein letztes Beispiel soll es noch geben (von den vielen, die mir im Gedächtnis geblieben sind), allerdings komplexer als das vorausgehende. Ich war eine Weile leicht depressiv, nicht von klinischem Ausmaß oder gar arbeitsunfähig, aber spürbar gedrückt und unterschwellig unfroh. Und es gingen dem KB, über das ich berichten möchte, einige Imaginationen zum Bachlauf voraus. Ich wollte mich offensichtlich mit etwas auseinandersetzen, was mit meinem damaligen Freund und meiner Beziehung zu ihm zu tun hatte, denn ich identifizierte den Bachlauf an seinem Beginn mit meinen Gefühlen ihm gegenüber. Der Bach führte mich, bevor er weiterfloss, jedes Mal in eine Gegend mit einem Teich und einer angrenzenden Schonung.
   In demjenigen Tagtraum, über den ich berichten will, trat aus dieser Schonung ein merkwürdiger, eher jüngerer Mann mit einem Jägerhut, der mir suspekt und zugleich unnahbar erschien. Er brach aus der Schonung und führte einen Hund bei sich. Mein innerer Therapeut hielt mich an, nicht auszuweichen, den Mann genau anzuschauen und das zwiespältige Gefühl, das er in mir auslöste, auszuhalten. Das gelang. Wenn ich ihn anzusprechen versuchte, blieb er atmosphärisch fern, unansprechbar, ominös. Der Hund war hässlich. Eine Rasse, von der Art, wie ich sie nicht mag. Ein Bullmastiff. Trotzdem, es muss die Anregung meines inneren Therapeuten gewesen sein, ließ ich mich auf den Hund ein. Ich betrachtete ihn näher, beobachtete sein Verhalten und wagte es schließlich, ihn zu berühren, sein Fell zu spüren und ihn zu streicheln. Da überkam mich ein so starkes, fast überschwemmend inniges Sympathiegefühl. Das Aussehen des Hundes spielte keine Rolle mehr. Es war okay. Er war mir zugetan und ich ihm. Der Mann mit Jägerhut stand in knapper Entfernung und ließ zu, was geschah. Der Kontakt mit dem Hund berührte mich tief. Es war, als wenn etwas (wieder) in mich hineinströmte. Es war ein fast körperliches Gefühl, zugleich zärtlich und wie von Liebe überwältigt. - Es ließ mich dankbar und staunend zurück.
   Die Depression, die ich ein paar Wochen schon mit mir herumgeschleppt hatte, war spürbar und auf dem Punkt genau mit diesem Bild verschwunden.    
   
   Ich hoffe, dass ihnen dieser Schluss meiner Ausführungen nicht kitschig vorkommt. Aber so war es – und es zeigt einmal mehr, dass es möglich ist, das KB auch im Eigenbetrieb sozusagen fruchtbar anzuwenden. Vorausgesetzt freilich, man verfügt über die notwendigen Ich-Funktionen und den inneren Therapeuten als begleitende und führende Instanz.



Literatur


Leuner, H. (1994):  Katathym-imaginative Psychotherapie (K.I.P.). Stuttgart: Thieme. 5. Aufl.

Leuner, H. (1994):  Lehrbuch der Katathym-imaginativen Psychotherapie. Bern: Huber. 3. Aufl.

Pszywyj, A. (1983):  Die imaginative Anwendung des Wassers im Katathymen Bilderleben. In Leuner, H: Katathymes Bilderleben – Ergebnisse in Theorie und Praxis. Bern: Huber. 2. Aufl.
  



Zusammenfassung:

Die Erweiterung des Möglichkeitsraumes durch „Eigen-KB“ –, das mag etwas sein, dem der eine oder andere skeptisch gegenüber steht. Beispiele von Imaginationen, lediglich begleitet vom inneren KB-Therapeuten, werden wiedergegeben und ihr jeweiliges Ergebnis zur Diskussion gestellt – etwa das prompte und dauerhafte Verschwinden leichter (nicht chronifizierter) Symptome, das Wiedererlangen blockierter Handlungsfreiheit etc.. Die Darstellung schließt eine Reflexion über die sog. „therapeutische Ich-Spaltung“ mit ein und nimmt Bezug auf das Niveau genereller Ich-Stärke.


Schlüsselwörter:

Innerer KB-Therapeut, therapeutische Ich-Spaltung, Ich-Stärke



Autorin:

Angelica Seithe-Blümer 
Dipl.-Psych., psychologische Psychotherapeutin, eigene Praxis, Dozentin der AGKB; Autorin von Lyrik und Kurzprosa.
Burgstraße 36
D-35435 Wettenberg (bei Gießen)
 
 
Vortrag beim internationalen Kongress der AGKB/DGKIP in Köln 2018
 
veröffentlicht:  Imagination 3-4 / 2018